Thilo Sarrazin Neues Buch geschrieben: Diese Freiheit nimmt er sich

Man muss Thilo Sarrazin nicht mögen, noch nicht einmal seine Bücher. Insbesondere das 2010 erschienene Werk "Deutschland schafft sich ab" hatte eine schlechte Presse - auch bei Rezensenten, die das Buch kaum oder gar nicht gelesen hatten und ihre Urteile auf vorab veröffentlichte Auszüge stützten.

Kanzlerin Angela Merkel teilte der Nation in diesem Sinne mit: "Nein, die Vorabpublikationen sind vollkommen ausreichend und überaus aussagekräftig, um These, Kern und Intention seiner Argumentation zu erfassen." Mit wenigen Jahren Abstand kann man die Sache differenzierter sehen, wie zum Beispiel Innenminister Thomas de Maizière.

Die Diskussion über das Buch von Sarrazin habe unsere Gesellschaft weitergebracht, urteilte de Maizière kürzlich: "Vorher war die Diskussion um Zuwanderung verdruckster." Den Autor hat es getroffen, dass die wenigsten sich die Mühe machten, auf Augenhöhe mit ihm zu diskutieren.

Der reflexhaft vorgetragene, aus seiner Sicht unbegründete Rassismus-Vorwurf habe die Debatte beherrscht, seine Fragestellungen seien unter ein Tabu gestellt worden, er selbst sei am Pranger dem Spott des Publikums preisgegeben worden, klagt Sarrazin in seinem heute erscheinenden Buch "Der neue Tugendterror".

Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland". Darin rechnet er mit schrecklichen Vereinfachern in Medien und Politik ab, die ihm nachweisbar viel Anlass für seine polemischen Spitzen geliefert haben. Sarrazin schlägt die alten Schlachten um seine Bücher noch einmal, kritisiert Kritiker wie Heribert Prantl und Gabor Steingart und dokumentiert klug einordnende Argumente von Autoren wie Josef Joffe, Volker Zastrow und Matthias Matussek, um nur einige zu nennen.

Wer Sarrazins frühere Bücher nicht gelesen hat, lernt hier das weltanschauliche und intellektuelle Universum des Autors in nuce kennen. Dass SPD-Mitglied Sarrazin sich als Opfer einer opportunistischen, "geistig recht wenig profilierten Politikerklasse" stilisiert und "herrschsüchtige, ideologisierte Medien" attackiert, ist nicht überraschend.

Dass es Ausgrenzungstendenzen im Umgang mit ihm gibt, ist unumstritten. Ebenso jedoch, dass seine Meinungsfreiheit nicht ernstlich bedroht ist. Diese Freiheit nimmt er sich in seinen Büchern, und das sogar mit beachtlichem kommerziellen Erfolg. Stark ist Sarrazins Studie in ihren analytischen und historischen Passagen.

Er beschreibt, welche Elemente zur Meinungsbildung beitragen, wie Meinungsherrschaft entsteht, welche Rolle der Sprache dabei zukommt und wie die Mechanismen der "Political Correctness" Toleranz in Intoleranz verwandeln können. Dann entstehe so etwas wie "Tugendwahn" und sogar "Tugendterror".

Das verfolgt Thilo Sarrazin von der Christianisierung und dem Untergang des antiken Götterhimmels über die heilige Inquisition und den Terror in der Französischen Revolution bis in die Gegenwart hinein. Im sechsten Kapitel des Buches liefert der Autor Belege für seine Thesen, dass ideologisch motivierte Denkverbote und Tabus eine rationale Debatte in Deutschland behinderten: über Gleichheit, Leistung, menschliche Fähigkeiten, den Islam, das klassische Familienbild oder den Nationalstaat.

Beispiel Islam. Dem Postulat "Der Islam ist eine Kultur des Friedens. Er bereichert Deutschland und Europa" setzt Sarrazin "Die Wirklichkeit" entgegen. Die zeige, in den Worten des Islam-Kenners Wolfgang Günter Lerch, "wie sehr der Islam eben nicht nur Religion ist, sondern auch Lebensordnung und Kultur".

Die Folge in den Augen von Sarrazin: Fälle von Ehrverbrechen, Antisemitismus, Hass, Gewalt. Er ist nicht milder geworden, weder in der Analyse noch im Ton. Wie gesagt, man muss weder den Mann mögen noch seine Ansichten. Die kritische Öffentlichkeit sollte nur nicht wieder den Fehler machen, seine Thesen unbesehen in die Tonne zu hauen.

Prügel für den Provokateur, Thema abgehakt? Wohl kaum. Die Menschen haben ein feines Gespür dafür, wenn einer mit fragwürdigen Mitteln aus der ernsthaften öffentlichen Diskussion ausgeschlossen wird. Dann kaufen sie seine Bücher erst recht.

Info

Thilo Sarrazin: Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland. Deutsche Verlags-Anstalt, 397 S., 22,99 Euro.

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