Zweiter Toter bei Protest in Türkei

Istanbul/Berlin · Die türkische Regierung hat sich am fünften Tag der landesweiten Protestwelle erstmals um Deeskalation bemüht. Vizeregierungschef Bülent Arinc entschuldigte sich am Dienstag nach einem Treffen mit Staatspräsident Abdullah Gül für die Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten.

An diesem Mittwoch will Arinc mit Vertretern der Demonstranten zusammenkommen, wie der Sender CNN Türk berichtete. In der Nacht war bei den Protesten gegen den islamisch-konservativen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan ein zweiter Demonstrant getötet worden - diesmal in Antakya im Süden des Landes. Aus Protest gegen die Regierung rief der Gewerkschaftsbund KESK einen Streik aus.

Einen Tag nach Erdogans Abreise zu einer mehrtägigen Nordafrikareise räumte sein Stellvertreter Bülent Arinc ein, dass die Proteste gegen ein umstrittenes Bauprojekt im Gezi-Park in Istanbul legitim gewesen seien. "In diesem ersten Fall war die übertriebene Gewalt gegen Bürger, die aus Sensibilität für die Umwelt handeln, falsch und unrecht. Bei ihnen entschuldige ich mich." Dies gelte aber nicht für diejenigen, die Zerstörungen anrichteten. Die Polizei hatte am Freitag ein Protestlager in dem Park brutal geräumt und damit die Demonstrationen ausgelöst.

Inzwischen richten sich die Demonstranten vor allem gegen den als immer autoritärer empfundenen Kurs Erdogans, der Extremisten für die Demonstrationen verantwortlich gemacht hatte. Vize-Regierungschef Arinc warnte, die Protestierer sollten sich nicht mit illegalen Gruppen einlassen.

In Istanbul kam es auch in der vierten Nacht in Folge zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten. Wie Aktivisten und türkische Medien berichteten, ging die Polizei im Stadtteil Besiktas am späten Montagabend erneut mit Tränengas gegen Erdogan-Gegner vor. Dabei gab es wieder Verletzte. Die Auseinandersetzungen waren aber nicht mehr so schwer wie in der Nacht zuvor. Auf dem zentralen Taksim-Platz in Istanbul hielten Regierungsgegner am Dienstag weiter die Stellung.

Nach Angaben von Innenminister Muammer Güler kam es seit Beginn der Protestwelle in 77 der 81 Provinzen zu Protestaktionen. Dabei seien 280 Geschäfte, 6 öffentliche Gebäude, 103 Polizeifahrzeuge, 207 Privatwagen, eine Privatwohnung, ein Polizei- und elf Gebäude der Regierungspartei AKP beschädigt worden. Es müsse mit einem Schaden von mehr als 70 Millionen Lira (rund 30 Millionen Euro) gerechnet werden, sagte der Minister in einer Parlamentsdebatte in Ankara.

Der in Antakya getötete Demonstrant war Mitglied der Jugendorganisation der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP). Ein CHP-Politiker sagte, der Mann sei von einer Gasgranate am Kopf getroffen worden. Erst am Vortag war bestätigt worden, dass ein Demonstrant in Istanbul ums Leben kam, als ein Autofahrer in eine Gruppe von Demonstranten raste. Seit Beginn der Proteste sind nach Angaben eines Ärzteverbandes mehr als 2300 Menschen verletzt worden.

Mitglieder des Gewerkschaftsbundes KESK - Dachverband für den öffentlichen Dienst - legten vom Mittag an die Arbeit nieder. Die Mitglieder sollten für eine demokratische Türkei eintreten und damit gegen den "Faschismus" der islamisch-konservativen Regierungspartei demonstrieren, hieß es auf einer KESK-Webseite. Eine weitere Gewerkschaft wollte sich dem Protest anschließen.

Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) sieht in der Protestwelle in der Türkei eine Bewährungsprobe für Erdogan. "Jetzt ist der Zeitpunkt, an dem die türkische Regierung beweisen kann und muss, dass sie es mit der Modernisierung der Türkei ernst meint", sagte Westerwelle am Dienstag in Berlin. Die Proteste zeigten, dass es dort "in zunehmendem Maße eine lebendige Zivilgesellschaft gibt", die ihre Stimme erhebe und ihre Rechte einfordere. Eine erfolgreiche und moderne Türkei sollte sich "auch durch das gelebte Bekenntnis zu Pluralismus und Bürgerrechten beweisen" und nicht nur durch wirtschaftliche Dynamik glänzen.

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