Deutschland und die Türkei Wenn Erdogan zum Du übergeht

Istanbul · Die Attacken des türkischen Präsidenten gegen deutsche Politiker haben vor allem innenpolitische Gründe. Auch für Erdogan hat der Wahlkampf begonnen, und auf der rechtsnationalistischen Seite erwächst ihm neue Konkurrenz.

Wenn Recep Tayyip Erdogan richtig sauer ist auf einen Gegner, dann lässt er die höfliche Anrede des „Sie“ weg und duzt seinen Opponenten. Sigmar Gabriel darf also getrost davon ausgehen, dass er den türkischen Präsidenten gründlich verärgert hat. „Wer bist du denn, dass du den türkischen Präsidenten ansprichst?“, fragte Erdogan an den deutschen Minister gerichtet bei einer Rede am Wochenende. „Spiel dich nicht auf. Wie alt bist du denn?“ Das mit dem Aufspielen ist eine Lieblingsformulierung von Erdogan, der damit die Rangfolge klarstellen will: Er selbst ist oben, und Gabriel ist ziemlich weit unten. Erdogans neue Verbalattacke auf Gabriel und Deutschland ist kein Zufall und hat vor allem innenpolitische Gründe.

Die deutsch-türkischen Beziehungen sind bereits seit über einem Jahr angespannt. Die Armenien-Resolution im Bundestag, die sehr zurückhaltende Reaktion der Deutschen auf den Putschversuch vom Juli 2016, die deutsche Kritik an der anschließenden Festnahmewelle in der Türkei und nicht zuletzt die Inhaftierung von Bundesbürgern durch Erdogans Justiz haben das Klima vergiftet. Berlin wirft Ankara vor, festgenommene Bundesbürger als Geiseln einzusetzen, um von Deutschland die Auslieferung von Anhängern des Predigers Fethullah Gülen und türkischen Regimegegnern zu erreichen.

Internationaler Haftbefehl für Akhanli

In den vergangenen Tagen ist der Streit beträchtlich eskaliert. Nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Ausweitung der Zollunion zwischen der EU und der Türkei ablehnte, rief Erdogan die türkischstämmigen Wähler offen auf, bei der Bundestagswahl im September gegen die Regierungschefin, gegen die SPD und gegen die Grünen zu stimmen. Am Samstag wurde zudem der türkischstämmige deutsche Schriftsteller Dogan Akhanli auf Betreiben der Türkei in Spanien festgenommen. Seit Sonntag ist er gegen Auflagen wieder auf freiem Fuß, das Auslieferungsverfahren läuft aber zunächst weiter.

Akhanli war bereits 2010 in der Türkei festgenommen worden, weil ihm die Beteiligung an einem mehrere Jahrzehnte zurückliegenden Raubüberfall vorgeworfen wurde. Das Verfahren gegen den linksgerichteten Schriftsteller galt als Rachefeldzug der türkischen Justiz gegen angebliche Staatsfeinde. Akhanli wurde nach einigen Monaten freigelassen und konnte nach Deutschland zurückkehren. In seiner Abwesenheit beantragten die türkischen Gerichte drei Jahre später einen internationalen Haftbefehl gegen ihn.

Marktplatz statt Diskretion

Ankara macht den deutschen Wahlkampf und einen angeblichen Stimmenfang deutscher Politiker auf dem Rücken der Türken dafür verantwortlich, dass die Beziehungen am „Bruchpunkt“ angelangt sind, wie die regierungstreue Zeitung „Daily Sabah“ formulierte.

Diese Vermutung ignoriert allerdings die Tatsache, dass die Türkei die Spannungen mit der Inhaftierung deutscher Staatsbürger und mit dem öffentlichen Vorwurf anheizt, die Bundesrepublik gewähre türkischen Staatsfeinden Unterschlupf. Erdogan könnte diese Probleme auch diskret mit der Bundesregierung besprechen. Aber er zieht Marktplatz-Reden vor.

Der Grund dafür liegt in der türkischen Innenpolitik. Auch für Erdogan hat der Wahlkampf begonnen. Mit einem personellen Umbau seiner Regierungspartei AKP will er sich auf das in 16 Monaten anstehende Superwahljahr 2019 mit Kommunal-, Parlaments- und Präsidentenwahlen vorbereiten. Bei der Präsidentenwahl braucht Erdogan mehr als 50 Prozent der Stimmen zur Wiederwahl – ein Ziel, das angesichts seiner repressiven Politik spätestens nach dem knappen Ausgang des umstrittenen Verfassungsreferendums sehr unsicher geworden ist.

Erdogan braucht Stimmen der AKP-Wähler

Hinzu kommt ein neuer Faktor, der Erdogan dazu animiert, mit Hilfe markiger Worte gegen Deutschland und andere westliche Staaten seine rechte Flanke zu schützen: Die nationalistische Politikerin Meral Aksener will in den kommenden Wochen eine neue Partei gründen, die rechtsgerichtete und konservative Wähler ansprechen soll. Aksener zielt damit unter anderem auf AKP-Stammwähler, die Erdogan in zwei Jahren dringend brauchen wird. Die neue Formation wird bei mehr als zehn Prozent der Stimmen angesiedelt und könnte Erdogans Chancen bei der Präsidentenwahl schmälern.

Aksener ist für den Staatschef also eine ernste Gefahr. Das ist ein wichtiger Grund dafür, warum der Präsident ausgerechnet jetzt so sehr seine Rolle als Wahrer türkischer Interessen im Ausland betont: Er will Aksener den Wind aus den Segeln nehmen. Demnächst könnten noch andere deutsche Spitzenpolitiker feststellen, dass sie von Erdogan geduzt werden.

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