Wahlen zum Europa-Parlament Was passiert, wenn man plötzlich zur Hassfigur wird?

Bonn · Axel Voss wurde zur Reizfigur und bekam den Hass vieler Internetnutzer zu spüren. Warum EU-Abgeordnete vom Bürger wenig wahrgenommen werden. Der EU-Politiker im Porträt.

Europa wählt. In Deutschland am 26. Mai. Wie alle fünf Jahre. Doch kaum ein Bürger kennt seinen Abgeordneten, der ihn in Brüssel und Straßburg vertritt. Deutlich weniger jedenfalls als die Parlamentarier, die für die Region im Landtag oder im Bundestag sitzen.

Der Bonner Axel Voss repräsentiert den Mittelrhein in Europas Zentrale. Ein freundlicher, zugewandter, unprätentiöser Mann. Jüngst gelangte der 56-jährige Jurist bundesweit zu zweifelhafter Prominenz, weil er in der Frage des Urheberrechts standhaft eine Position vertrat, die viele, vor allem internetaffine junge Leute, für falsch hielten und bekämpften.

Nun kennt man ihn. Er wird beschimpft, verhöhnt, bedroht, herabgewürdigt. Was macht das mit einem, wenn man plötzlich zu einer Hassfigur wird? „Als Politiker muss man auch immer ein wenig mehr ertragen können. Allerdings schockiert mich die Verrohung der Sitten bis hin zur Morddrohung. Da werden Grenzen überschritten. Das ist nicht der Umgang, den wir miteinander haben wollen“, sagt der CDU-Politiker.

Nicht paranoid

Eine latente Bedrohungslage besteht. „Das hat mich schon ein wenig verändert.“ Voss will nicht paranoid sein, doch beobachtet er nun seine Umgebung aufmerksamer, im Auto oder in der Bahn, ob jemand ihm folgt, ihn vielleicht heimlich filmt. In Veranstaltungen drängt sich ihm automatisch die Frage auf: Kann das hier eskalieren? Auch der zeitweilige Polizeischutz sei gewöhnungsbedürftig. Gleichwohl trete er für seine Überzeugungen weiter ein. „Das ist meine Aufgabe als Abgeordneter.“ Derzeit lebt der 56-Jährige in einer Ausnahmesituation.

Doch wie sieht der Alltag aus? Woran liegt es, dass ein Europa-Abgeordneter in der Regel außerhalb von politischen und wirtschaftlichen Zirkeln kaum wahrgenommen wird? „Wir haben im Jahr 42 Sitzungswochen in Brüssel oder Straßburg“, sagt Voss. Rechne man Urlaub und Weihnachtspause hinzu, blieben, abgesehen von den Wochenenden, noch fünf bis sechs Wochen vor Ort. „Das spiegelt sich dann im Bekanntheitsgrad wider. Die Europa-Abgeordneten sind in der breiten Bevölkerung wenig bekannt.“ Außerdem seien die zu betreuenden Bezirke viel größer als die der Landtags- oder Bundestagsabgeordneten. „Da können Sie leider nicht ständig überall Präsenz zeigen.“

Sein Bezirk Mittelrhein umfasst die Städte Köln, Bonn und Leverkusen sowie den Rhein-Erft- und den Rhein-Sieg-Kreis. Hier leben mehr als 2,6 Millionen Menschen. Bei der Bundestagswahl ist dieses Gebiet in neun Wahlkreise aufgeteilt, bei der Landtagswahl in 17. In Europa muss er es alleine bearbeiten.

Nun sei es so, sagt Voss, dass man die viele Zeit in Brüssel und Straßburg auch benötige. Dort arbeitet er rund 15 Stunden täglich. „Die Kompromissfindung zwischen 28 unterschiedlichen Mentalitäten, Rechtsstrukturen, Traditionen erfordert eine immense, permanente Kommunikation.“

Kontakt mit den Bürgern hält der Parlamentarier wie viele seiner Kollegen vor allem über zahlreiche Wahlkreistermine am Freitag, Samstag und Sonntag, über Anfragen an seine Büros in Bonn und Brüssel, über Facebook, Twitter oder Instagram und Besuchergruppen im Parlament. Zudem ist seine Internetseite hochinformativ – was seine Person und seine Politik betrifft.

Wenn das Interesse von der anderen Seite nicht da ist

„Doch man stößt auch an Grenzen, Leute zu erreichen, wenn das Interesse von der anderen Seite nicht da ist“, meint der CDU-Politiker. In jüngster Zeit war die Kommunikation ohnehin schwieriger. Wegen des Shitstorms, der ihn rund um das Thema Urheberrecht ereilte, konnte er kein Telefon benutzen, „weil es von morgens bis nachts permanent klingelte“, und es auch schwierig geworden war, auf die Masse von E-Mails überhaupt noch reagieren zu können.

Um welche Themen geht es bei Anfragen? „Wir haben eine große Bandbreite. Es geht um den Brexit – etwa Pass- und Sozialversicherungsfragen –, um Mittelstandspolitik, Förderprogramme, Daten- oder Verbraucherschutz, Anerkennung von Berufen.“ Manche haben ein spezielles Anliegen, manche liefern Anregungen, manche suchen auch Kontaktvermittlung auf die EU-Ebene.

Ein Europa zum Anfassen ist also möglich und beweist sich häufig hautnah: von abgeschafften Roaming-Gebühren beim Telefonieren ins Ausland, studierenden Kindern in Maastricht oder Lüttich, Verbraucherrechten bei Reisen ins Ausland, günstigen, weil zollfreien Produkten und, und und. Was andererseits Grenzen in Europa bedeuten, könnte bald der Brexit der Briten zeigen.

Vieles sei zu selbstverständlich geworden

Doch die Wertschätzung für die EU lässt nach, beobachtet Voss: „Wir haben einen Standard in der EU erreicht, wie wir ihn noch nie in der Geschichte hatten, vieles aber ist zur Selbstverständlichkeit geworden.“ Das führe mitunter dazu, dass die Bürger das Gefühl hätten, uns geht es doch gut, wozu brauchen wir noch eine EU?

„Dass unser Wohlstand, unsere Freiheit, unser Frieden aber auf der EU gründen, dass Europa diese Versprechen eingehalten hat, muss man den Menschen immer wieder klarmachen. Der Binnenmarkt schafft uns den Wohlstand“, ist der Abgeordnete überzeugt. Und: „Wir brauchen wieder mehr Interesse der Bürger an den europäischen Angelegenheiten. Das ist unsere einzige Option auf eine gedeihliche Zukunft.“

Dafür will Voss nun auch im bevorstehenden Wahlkampf werben. Angesichts der bedenklichen internationalen Tendenzen, der aufkeimenden Renationalisierung der Politik, der Putins, Trumps, Erdogans oder Orbans dieser Welt „müssen wir kämpfen für Europa und den Leuten sagen: Erstens geht zur Wahl und zweitens wählt pro-europäisch“.

Was es zu bewahren gilt

Warum? „Wenn wir als Europäer in der globalisierten Welt noch eine Rolle spielen wollen, wenn wir in der Lage sein wollen zu handeln, statt behandelt zu werden, wenn wir unseren Wohlstand, unsere gewohnten Standards zum Beispiel im Gesundheitsschutz, Klimaschutz, Verbraucherschutz, Arbeitnehmerschutz halten wollen, müssen wir als Europa zusammenstehen. Als Einzelstaaten bekommen wir gegenüber China, Russland oder den USA nichts mehr durchgesetzt.“

Deshalb will Voss den Menschen deutlich machen, welchen Wert die Europäische Union für uns hat und was es da zu bewahren gilt, aber auch zu verlieren gibt, wenn man nicht aufpasst. Doch dazu gehören eben zwei Seiten, nämlich auch Bürger, die sich interessieren. „Gemeinsam mehr erreichen“, lautet sein Slogan. Klingt ein wenig altbacken und nach Pfadfinderromantik statt nach hippem Internetzeitalter. Der Bedeutung seines Anliegens tut dies aber keinen Abbruch.

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