Interview mit Franz Müntefering "Vorsitzender zu sein, hat mir imponiert"

Berlin · Mit dieser Legislaturperiode enden die politischen Karrieren einer Reihe deutscher Politik-Größen, darunter Franz Müntefering, der nach 38 Jahren Parlamentserfahrung den Bundestag verlässt und über seine Zeit in den Parlamenten in Bonn, Berlin und Düsseldorf spricht.

 Franz Müntefering ist immer wieder für einen Spaß gut. Im Rückblick bewertet er viele ernste Erlebnisse.

Franz Müntefering ist immer wieder für einen Spaß gut. Im Rückblick bewertet er viele ernste Erlebnisse.

Foto: dpa

Gibt es noch Leidenschaft im Bundestag?
Franz Müntefering: Ja, gibt es.

In abnehmender Menge?
Müntefering: Das weiß ich nicht. Das äußert sich nicht im Temperament, in der Lautstärke, auch nicht in der Zünftigkeit oder in Redeformen, wie Herbert Wehner sie hatte. Sondern darin, dass man in der Sache wirklich etwas bewegen will. Das glaube ich schon, dass wir das für uns in Anspruch nehmen dürfen.

Wenn Sie auf 38 Jahre Parlamentserfahrung zurückblicken: Wen würden Sie als großen Parlamentarier bezeichnen?
Müntefering: Herbert Wehner war sicher so einer.

Warum?
Müntefering: Er war einer, der die Parlamentsarbeit und damit uns geprägt hat. Für ihn war das Parlament das Zentrale. Er war eigentlich immer da, saß immer da vorne. Natürlich hatte er auch die Privilegien des Fraktionsvorsitzenden: Die Arbeit, die unsereins im Büro gemacht hat, wurde ihm dorthin gebracht. Er hat immer mitstenografiert und alle hatten Sorge, dass er irgendwann einmal veröffentlicht, was er alles aufschreibt - hat er aber nie getan. Es gab natürlich auch andere, die mich beeindruckt haben: Helmut Schmidt hatte als Fraktionsvorsitzender in der großen Koalition zwischen 1967 und 1969 eine ganz wichtige Funktion. Mit Hans-Jochen Vogel war ich Geschäftsführer. Er hat als Fraktionsvorsitzender unglaublich intensiv gearbeitet. Ich schätze ihn sehr. Für mich selbst war das wichtigste und einflussreichste Amt, mit der größten politisch legitimierten Macht, ebenfalls das des Fraktionsvorsitzenden von 2002 bis 2005.

Welche Frau hat Ihnen am meisten imponiert?
Müntefering: Als ich 1975 kam, habe ich Bundestagspräsidentin Annemarie Renger noch kennengelernt. Das war natürlich eine außergewöhnlich Frau, die den Aufbau der Partei aus der Zeit Kurt Schumachers ab 1945 kannte. Herta Däubler-Gmelin war ganz sicher eine erstklassige Justizministerin, auch Brigitte Zypries. Und ich habe auch Ulla Schmidt als Gesundheitsministerin sehr geschätzt. Wir hatten viele gute Frauen dabei.

Welches parlamentarische Erlebnis hat Sie in dieser Zeit am meisten beeindruckt?
Müntefering: Wenn man aber etwas ganz Konkretes nimmt, dann war es der Abend, als die Mauer fiel. Wir waren im Wasserwerk in Bonn und konnten es gar nicht fassen, was da geschah. Das war sehr bewegend, als die Botschaft kam. Willy Brandt kam noch dazu. Den werde ich nicht vergessen, weil er aufgewühlt war und schneller als wir Jungen kapiert hat, dass das die große Chance ist. Während andere und ich fast die ganze Nacht aufblieben, weil wir nicht glauben konnten, dass die Ereignisse an der Mauer ohne einen Konflikt ablaufen würden. Das war uns zu leichtgläubig bei all den Katastrophen, die es gegeben hatte. Und dann sollte die Mauer einfach friedlich umfallen und der Kommunismus kapitulieren? Am nächsten Morgen habe ich es erst richtig geglaubt, dass alles ohne Blut ablaufen könnte.

Welche sind die schlimmsten Kämpfe: Diejenigen mit der Opposition oder die parteiinternen?
Müntefering: Zurzeit die mit der Regierung, natürlich. Wir sind leider in der Opposition. Die Kämpfe innerhalb der Partei sind nicht schlimm. Das gehört zur Demokratie dazu. Es ist ein Missverständnis anzunehmen, in einer Partei wären nur Leute, die derselben Meinung sind. Sondern in einer Partei sind Leute, die eine gemeinsame Himmelsrichtung haben. Wer eine Partei haben will, die 100-prozentig ist, darf keinen zweiten Mann dazu nehmen.

Wie war Ihre Zusammenarbeit mit Frau Merkel in der Großen Koalition?
Müntefering: Unproblematisch. Menschlich völlig in Ordnung. Aber das ist nicht entscheidend. Was ich ihr übel genommen habe war, dass sie in Sachen Mindestlohn nicht bereit war, sich wirklich zu bewegen und dass sie damit einen zentralen Punkt unserer ganzen Konzeption der Agenda verweigert hat. Darüber haben wir uns auch mehrmals stehend unterhalten und waren auch sauer aufeinander. Ansonsten glaube ich, dass wir sie 2005 von einer marktradikalen Politik abgehalten haben, die damals Mode war und wo sie ganz vorne anmarschierte. Dann hat Frau Merkel mit uns in der Großen Koalition eine Politik gemacht und auch machen müssen - sonst wäre die Große Koalition nicht zustande gekommen -, die dicht an sozialdemokratischer Politik war. Wir haben in der ganzen Zeit erheblich mitgemischt. Für unser Land war die Große Koalition nicht schlecht.

Welche persönlichen Eigenschaften haben Sie, die Ihnen heilig sind oder denen Sie treu bleiben möchten?
Müntefering: Heilig ist ein zu großes Wort.

Für einen Katholiken ...
Müntefering: Ja, ja, da geht man vorsichtig mit um.

Dann eben treu bleiben?
Müntefering: Ich möchte, dass die Menschen mit denen ich über Politik spreche, verstehen was ich meine. Was mir in der Politik unangenehm gewesen ist, ist, dass ich Leuten begegnet bin, die entweder geredet haben ohne zu wissen, was sie da eigentlich erzählen, oder die so kompliziert gesprochen haben, damit der Andere nicht versteht, was sie tatsächlich meinen. Deshalb war immer eines meiner Anliegen so zu reden, dass die Leute einigermaßen verstehen können, was ich meine. Deshalb habe ich mich immer damit beschäftigt, wie ich eigentlich reden und was ich eigentlich machen muss, damit die Leute verstehen, was ich meine. Ich glaube, dass das durchaus eine Eigenart ist, die Menschen an mir schätzen. Sie werden nicht sagen: Das ist ein Intellektueller oder der ist super klug oder der hat alles richtig gemacht. Aber sie werden schon sagen, dass sie verstehen was ich sage und dass ich es ehrlich meine. Ich finde, das ist ziemlich viel, denn Klarheit schafft Wahrheit.

Was bleibt in Ihrer Erinnerung von Bonn?
Müntefering: Ein Parlamentsbetrieb, der doch sehr anders war, als der heute. Das hängt vor allen Dingen mit den veränderten medialen Bedingungen zusammen: Damals gab es kein Handy, keine Faxgeräte. Es gab im Langen Eugen auf drei Etagen große Kopiergeräte, vor denen die Mitarbeiter lange warten mussten. Das war ein anderes Tempo, das aber den Vorteil hatte, dass man mehr miteinander sprechen musste und auch konnte. Meine Sorge ist, dass wir die Bedeutung des Gesprächs und des Gedankenaustauschs unmittelbar von Person zu Person als etwas sehr wichtiges aus den Augen verlieren - übrigens nicht nur in der Politik. Meine Partei ermahne ich, dass man nicht vergessen darf miteinander zu reden, die Gedanken aneinander zu messen und nötigenfalls auch zu streiten. Dafür hatte man damals mehr Zeit. Heute hat man einen Berg an Informationen und muss herausfiltern, was daran eigentlich wichtig ist. Das kann ich alles gar nicht lesen, was ich jeden Tag an Infos bekomme. Da haben sich die Dimensionen ziemlich verschoben. Und es ist viel Schrott dabei. Man kann sich drin verlaufen.

SPD-Parteivorsitzender sei das schönste Amt neben dem Papst haben Sie mal gesagt: Sehen Sie das heute immer noch so?
Müntefering: Ich hoffe ich habe "nach dem Papst" gesagt, aber das ist mir so herausgerutscht, wie das bei katholischen Jungen so ist. Ich wollte damit sagen, dass das schon eine ganz wichtige Sache ist. Das entstand übrigens vor dem Hintergrund, dass ich eigentlich gar nicht Parteivorsitzender werden wollte. Als Gerd Schröder mir das Ende 2003 angeboten hat, sagte ich: Nein, das ist nicht gut, Du musst das bleiben. Doch dann legte er mir das wiederholt nahe und im März etwa willigte ich ein. Vorsitzender zu sein, in der Nachfolge von Bebel und Brandt, war schon etwas, was mir imponiert hat. Ich habe sonst auf solche Titel wenig Wert gelegt, aber ich gebe zu, dass das schon etwas war, was ich toll fand und da fällt so einem katholischen Jungen eben ein: Da bist du gleich hinter dem Papst. (lacht)

Ist eine neue Liebe wie ein neues Leben?
Müntefering: Ich habe vieles erlebt, auch was private Dinge anbelangt. Ja, es geht mir gut und das hat natürlich auch damit zu tun, wenn man einen Menschen hat, auf den man sich ganz besonders ausrichtet und konzentriert. Das ist schon eine gute Sache, dass man zu zweit ist.

Ist Ihre Frau eigentlich auf der Landesliste aufgestellt?
Müntefering: Herne/Bochum II ist ein Wahlkreis, der mutmaßlich von der SPD gewonnen wird. Bei der letzten Bundestagswahl war der Wahlkreis glaube ich der Drittbeste, den wir bundesweit hatten. Natürlich muss man gewählt werden und sie wirbt intensiv um jede Stimme. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie es gewinnen kann, ist erfreulicher Weise sehr hoch. Deshalb hat sie auf der Landesliste nicht um eine Platzierung vorne gekämpft, sondern hat sich weiter hinten eingereiht.

Haben Sie vor Ihre Memoiren zu schreiben?
Müntefering: Nein. Das habe ich immer versprochen: Nichts Autobiografisches, keine private Geschichte. Ansonsten will ich in Bewegung bleiben.

Zur Person

Franz Müntefering ist 1940 in Neheim-Hüsten im Sauerland geboren. Zwischen 1999 und 2009 war er Partei- und Fraktionsvorsitzender sowie Generalsekretär der SPD. Er war Vizekanzler und Bundesarbeitsminister von 2005 bis 2007.

Nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag soll er zum Präsidenten des Arbeiter-Samariter-Bundes ernannt werden. Er ist zum dritten Mal verheiratet mit Michelle Schumann, die für die kommende Wahl kandidieren wird.

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