Bundestag Viel mehr Abgeordnete als vorgesehen sitzen im Bundestag

Berlin · SPD und Union begrüßen den Appell zur Reduzierung der Mandate, haben aber verschiedene Ideen für den Weg dahin. Der aufgeblähte Bundestag droht nach der nächsten Wahl noch größer zu werden. Nun lesen 102 Staatsrechtler dem Parlament die Leviten.

Bundestag: Viel mehr Abgeordnete als vorgesehen sitzen im Bundestag
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Bislang waren alle Anläufe für ein neues Wahlrecht vergebens. Der aufgeblähte Bundestag droht nach der nächsten Wahl noch größer zu werden. Nun lesen 102 Staatsrechtler dem Parlament die Leviten. Das Wahlrecht als wichtigste demokratische Äußerungsform habe einen "geradezu entdemokratisierenden Effekt", denn es sei so kompliziert geworden, dass kaum noch ein Wähler verstehe, was seine Stimmen bewirkten.

Die Staatsrechtler beklagen zwar die Übergröße sowie die "unnötigen Zusatzkosten von vielen Millionen Euro" und rufen dazu auf, das Bundeswahlgesetz "unverzüglich" zu vereinfachen. Doch den Weg dahin markieren sie zurückhaltend: "Vorschläge für eine solche Reform, die übrigens auch ohne die (aufwändige) Vergrößerung der Wahlkreise möglich ist, liegen auf dem Tisch."

"Ich begrüße den Vorstoß der Staatsrechtler", sagte Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann (SPD) unserer Redaktion. Schließlich sei der Bundestag "deutlich zu groß" und drohe noch größer zu werden. "Deswegen muss etwas geschehen, sonst verliert das Parlament seine Glaubwürdigkeit", lautet seine Folgerung. Die Reform des Wahlrechts müsse "bis Ende des Jahres angegangen werden, weil sonst die Zeit bis zu den nächsten Bundestagswahlen zu knapp wird", unterstrich Oppermann. Alle Vorschläge liefen darauf hinaus, die Anzahl der Wahlkreise zu verringern, damit Überhang- und Ausgleichsmandate aufgefangen werden könnten. "Am Ende muss es aber dabei bleiben, dass mit der Zweitstimme über die proportionale Zusammensetzung des Deutschen Bundestages entschieden wird."

Damit gerät er in Konflikt mit der Union: "Deshalb kann der Wunsch der Union, sich dadurch einen Sondervorteil zu verschaffen, dass ein Teil der Überhangmandate unausgeglichen bleibt, nicht akzeptiert werden." Er droht mit einer Mehrheit "ohne die Union", ergänzt jedoch um die Feststellung, dass die Reform auf eine "möglichst breite Grundlage gestellt" werden solle.

Auch Unions-Fraktionsgeschäftsführer Michael Grosse-Brömer begrüßt den Appell der Staatsrechtler. Vor allem betont er, wie sehr zu Recht sie auf Reformvorschläge hinweisen, "die ohne eine aufwändige Änderung der Wahlkreise auskommen und deshalb schnell realisiert werden können". Für die Union stehe fest: "Eine Reduzierung der Zahl der Wahlkreise würde zu einer größeren Distanz zwischen Abgeordneten und Bevölkerung führen und die notwendige demokratische Repräsentanz vor Ort ganz erheblich beschädigen." Grosse-Brömer: "Die Bürgernähe der Politik darf bei einer Wahlrechtsreform nicht aus den Augen verloren werden." Dazu lägen mehrere konstruktive Vorschläge auf dem Tisch.

Das Problem ist die sehr zurückhaltende Vorgabe im Grundgesetz und die in sich unklare Priorisierung im Bundeswahlgesetz. Die Verfassung verlangt in Artikel 38 nur, dass die Abgeordneten "in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl" gewählt werden müssen. Es hat sich nicht festgelegt, ob es ein Mehrheitswahlrecht sein soll, bei dem sich das Parlament aus den Volksvertretern zusammensetzt, die in ihren Wahlkreisen die meisten Stimmen bekommen, oder ob es ein Verhältniswahlrecht sein soll, in dem bundesweit der Anteil der Wähler für die Parteien deren Zahl der Sitze im Parlament ergibt.

Das Wahlgesetz hat daraus eine Mischform entwickelt, die zum einen Deutschland in 299 Wahlkreise aufteilt, in denen jeweils der oder die mit den meisten Stimmen gewählt ist. Weitere 299 Mandate sollen sich zum anderen aus den Landeslisten der Parteien nach ihrem jeweiligen Stärkeverhältnis ergeben. Nach mehreren Verfassungsgerichtsurteilen ist nun ein faktisches überwölbendes Verhältniswahlrecht daraus geworden, wonach eine Partei, die in einem Bundesland mit der Erststimme mehr Direktwahlkreise gewonnen hat als ihr nach dem Anteil an den Zweitstimmen zustehen, bei den anderen Parteien so viel mehr Sitze zum Ausgleich auslöst, bis das Verhältnis wieder gewahrt ist.

SPD und Opposition wollen nun an die Erststimmen ran und sehen nur eine verfassungsfeste Möglichkeit in der Senkung der Zahl der Direktwahlkreise. Die Union will hingegen nicht mehr jedes gewonnene Überhangmandat einer Partei bei den anderen ausgleichen.

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