Flüchtlingsproblematik Stille auf dem Mittelmeer

Rom · Der umstrittene und nicht von allen im Kanal von Sizilien aktiven NGOs unterschriebene Verhaltenskodex des italienischen Innenministeriums wirkt inzwischen beinahe wie Makulatur. Denn die Rettungsorganisationen wagen sich kaum noch in die Nähe Libyens.

Es gab Tage, da kreuzten bis zu zehn Rettungsschiffe im Kanal von Sizilien, um Flüchtlinge aus seeuntüchtigen Schlauchbooten aufzunehmen. An diesem Montag war nur noch ein einziges vor der libyschen Küste unterwegs. In etwa 20 Seemeilen Abstand zur Küste kreuzte die Aquarius der Organisation SOS Méditerranée nordwestlich von Tripolis. Sieht man vom Handelsverkehr ab, dann wirkt das Mittelmeer vor Libyen wie verwaist. Auch Berichte über mit Flüchtlingen vollgestopfte Schlauchboote, die von der Küste ablegen, gibt es nicht. Nicht einmal 2000 Immigranten haben seit Anfang August Italien von Libyen aus über das Mittelmeer erreicht, zuletzt fuhr kaum ein Boot ab.

Im Juli kamen noch etwa 11.500 Flüchtlinge über die zentrale Mittelmeerroute, im Juni noch rund 23.000. Die Tendenz ist eindeutig, die Gründe weniger klar. Doch auch der Aktionsradius der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) hat sich nachhaltig reduziert. Die italienische Regierung ist zufrieden und führt den spürbaren Rückgang auf die neue Linie in der Flüchtlingspolitik zurück.

Die in jüngster Zeit ergriffenen Maßnahmen zielen auf eine enge Zusammenarbeit mit der international anerkannten, aber de facto schwachen Einheitsregierung von Ministerpräsident Fajes al-Sarradsch, der nicht gerade zuverlässigen libyschen Küstenwache und auf Eingriffe in das Wirken der Rettungsorganisationen. Die sahen sich immer stärker dem Vorwurf ausgesetzt, mit ihrer Präsenz vor der Küste vor allem die Schlepperorganisationen zu unterstützen.

Der umstrittene und nicht von allen im Kanal von Sizilien aktiven NGOs unterschriebene Verhaltenskodex des italienischen Innenministeriums wirkt inzwischen beinahe wie Makulatur. Denn die Rettungsorganisationen wagen sich kaum noch in die Nähe Libyens. Am Wochenende hatten die Organisationen Ärzte ohne Grenzen, Save the Children sowie Sea Eye angekündigt, bis auf Weiteres auf Rettungseinsätze zu verzichten. Als Gründe wurden in erster Linie Sicherheitsbedenken im Blick auf Drohungen der libyschen Küstenwache angegeben. „Für NGOs wird das Klima im Mittelmeer immer feindseliger“, twitterte Ärzte ohne Grenzen, „das wird eine große Lücke bei den Rettungsarbeiten reißen und Menschenleben fordern.“ Laut Flüchtlingshilfswerk UNHCR ertranken in diesem Jahr bereits mindestens 2171 Menschen auf dem Weg nach Italien.

Die NGO-Rettungsschiffe hatten zuletzt bis zu 40 Prozent der übersetzenden Flüchtlinge vor Libyen aufgegriffen und waren insbesondere Rom ein Dorn im Auge. Seit Italien Flüchtlinge konsequenter registriert, sind diese an der Weiterreise nach Norden gehindert.

In der aktuellen Entwicklung kommt der libyschen Küstenwache eine Schlüsselrolle zu, die auch die Vorsicht der Rettungsorganisationen erklärt. Vor wenigen Tagen hatte ein Sprecher der Küstenwache die Einrichtung einer Such- und Rettungszone angekündigt und den NGOs mit Konsequenzen gedroht, sollten sie ohne Autorisierung in diese Zone eindringen.

Mitglieder der spanischen NGO Proactiva Open Arms berichteten, vorige Woche von einem Schiff der libyschen Küstenwache beschossen worden zu sein. Von einem ähnlichen Vorfall berichtete Ärzte ohne Grenzen im vorigen Jahr. Die NGOs warnen nun vor den Folgen der Rückführungen von Flüchtlingen durch die libysche Küstenwache und den unmenschlichen Bedingungen in den Auffanglagern, in denen Folter und Vergewaltigungen an der Tagesordnung seien. „Die europäischen Staaten und die libyschen Behörden errichten eine gemeinsame Blockade, um zu verhindern, dass sich Personen in Sicherheit bringen“, sagte der italienische Vorsitzende von Ärzte ohne Grenzen, Loris De Filippi.

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