Stinkefinger-Bild Steinbrücks Spiel mit dem Feuer wird Forschungsthema

BONN · Die Empörung im Internet war groß, als das Magazin der "Süddeutschen Zeitung" gut eine Woche vor der Bundestagswahl mit dem Foto eines den "Stinkefinger" zeigenden Peer Steinbrück auf den Markt kam. Nach Ansicht der Bonner Medienwissenschaftlerin Caja Thimm hat der damalige SPD-Kanzlerkandidat seinerzeit "mit dem Feuer gespielt".

Ihm sei es aber nicht gelungen, "das Feuer wieder zu löschen. Und das hat zum Sturm im Netz geführt", so Thimm.

Wie und warum ein solcher Sturm entsteht, wie Diskussionen in den neuen Medien verlaufen, wie Betroffene Gegenstrategien entwickeln können oder ob solche Stürme langfristige Folgen haben - Fragen, mit denen sich ein Forschungsvorhaben der Bonner Akademie für Forschung und Lehrer praktischer Politik (BAPP) und der Uni zu Erregungskampagnen befasst. Gestern stellten Thimm und der Duisburger Politikwissenschaftler Christoph Bieber das auf ein Jahr angelegte Projekt vor.

Gewonnen hatten sie für die Auftaktveranstaltung die Bloggerin Anne Wizorek, die Anfang des Jahres bekannt geworden war. Zunächst hatte die Berlinerin in ihrem Blog nur einen Beitrag geschrieben über die britische Kampagne "Everyday Sexism", also über den alltäglichen Sexismus auf der Insel. Im Zuge der Empörung über anzügliche Bemerkungen des FDP-Spitzenkandidaten Rainer Brüderle bündelte Wizorek unter dem "Hashtag", quasi dem Stichwort, "#aufschrei" ähnliche Berichte in Deutschland.

"Ich hatte nie einen konkreten Aufruf gestartet", sagte Wizorek gestern in Bonn. Und dennoch erschienen in wenigen Tagen Zehntausende Botschaften zum Thema. "Das war sehr überwältigend." Sie habe viele Zuschriften von Frauen, aber auch Männern bekommen, die sehr dankbar gewesen seien, dass man sich so über das Thema habe austauschen können. Für die Medienwissenschaftlerin Thimm zeigt dieses Beispiel, dass Themen, "die sonst nie in die Öffentlichkeit gekommen wären, plötzlich diskutiert werden".

Doch ihr Engagement hatte für Wizorek, die seinerzeit 31-jährigen Feministin, auch negative Folgen. Gegner hätten sie und andere Frauen massiv diffamiert, sie sogar bedroht, und auch den Hashtag gekapert, "also Taktiken angewendet, um uns zum Schweigen zu bringen", berichtete sie.

Das Beispiel zeige "den fundamentalen Paradigmenwechsel" in der Kommunikation, meinte Jürgen Kluge, vor zwei Jahren noch Manager beim Industriekonzern Haniel und Initiator des Forschungsprojekts. Während früher nur Journalisten Texte veröffentlichen konnten, hätten heute alle Menschen die Möglichkeit zu publizieren. "Das lädt auch zum Missbrauch ein." Kluge befürchtet "eine Art Wettrüsten im Netz". So würden in den Kommunikationsabteilungen großer Unternehmen sicher schon heute Kampagnen geplant - auch um Stürmen im Netz entgegenzutreten.

Peer Steinbrück gelang es bis zur Wahl nicht, eine Gegenstrategie zu entwickeln. Andererseits: Mehr geschadet als der Stinkefinger hatten ihm die Diskussionen über seine Vortragshonorare Monate zuvor, wie SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles jüngst bei Phoenix sagte. Ein Thema für die Forschung ist Steinbrücks Spiel mit dem Feuer dennoch.

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