Arzneimittel-Agentur So wirbt Bonn für neue Agentur in Brüssel

Brüssel · Im Zuge des Brexits zieht die EU die Europäische Arzneimittel-Agentur aus London ab. Bonn bewirbt sich in Brüssel als deutscher Standort.

Wenn in Brüssel selbst der „rheinische Frohsinn“ als Argument zitiert wird, kann es sich eigentlich nur um eine Bewerbung handeln. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) zog diesen Trumpf als Beispiel für viel Lebensqualität am Rhein am Donnerstag aus der Tasche, als er für das wohl derzeit prestigeträchtigste Projekt der EU warb, dass er in Bonn sehen will: die Europäische Arzneimittel-Agentur (Ema).

In Folge des Brexit zieht die EU-Kommission ihre zentrale Behörde mit rund 1000 hoch qualifizierten Experten plus Familien plus jährlich rund 40 000 Fachbesuchern und rund 1000 Kanzleien, Consulting-Agenturen und Pharma-Vertretungen im Umfeld aus London ab. Gesucht wird ein neuer Standort. Die Bundesregierung geht mit Bonn an den Start.

„Eine nur auf den ersten Blick ungleiche Konkurrenz“ gegenüber den anderen 18 Bewerberstädten mit klingendem Namen wie Lille (Frankreich), Kopenhagen, Barcelona, Wien oder Brüssel. Bonns Oberbürgermeister Ashok Sridharan hatte sogar die genaue Zahl der städtischen Bäume (rund 30 000) mitgebracht, um den Naherholungseffekt der Metropole am Rhein anzupreisen.

Naherholung ist Nebensache

Doch in der Endphase der Bewerbungen zeigt sich immer mehr: Darauf kommt es bestenfalls am Rande an. Die einstige Bundeshauptstadt verwies nicht nur auf das nahe gelegene Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (Bfarm), mit über 1100 Spezialisten die größte der insgesamt 50 nationalen Zulassungsbehörden in der EU. Bonn sieht sich als Zentrum einer ganzen Kompetenzregion, die mit Köln, Düsseldorf und Aachen sowie Frankfurt weit größere Ausmaße hat und so etwas wie eine europäische Wissenszentrale für alle Fragen von Arzneimittelforschung, -sicherheit und Patientenschutz ist.

Wolfgang Clement, früherer Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, sagte gestern in Brüssel: „Ich sehe nicht, dass es an den anderen Standorten eine vergleichbare Konzentration von Wissenschaft und Sachverstand gibt.“ Der SPD-Politiker leitet die Bewerbungskampagne für den deutschen Standort.

Natürlich pochen alle Bewerber auf ihre zentrale Lage, die gute Erreichbarkeit aus allen Mitgliedstaaten und ein entsprechendes Ambiente für die Angehörigen und Besucher der Ema-Behörde. Dennoch sticht – nach den ersten Reaktionen zu urteilen – Bonn durch zwei Argumente heraus.

Vor wenigen Wochen hatte Ema-Chef Guido Rasi in London seine tiefsten Befürchtungen offenbart: „Wovor ich wirklich Angst habe, ist, dass etwas genau während der Übergangsphase passiert – das ist eine wirkliche Gefahr für die öffentliche Gesundheit.“ Es geht also um die Frage, wer den Umzug logistisch, vor allem aber weitgehend ohne Arbeitsunterbrechung durchführen kann, weil sich Europas wichtigste Agentur für die Sicherheit von Medizinprodukten und Medikamenten einen mehrwöchigen Ausfall schlicht nicht leisten kann.

Der Bundesgesundheitsminister machte aus dieser Furcht in Brüssel sein vielleicht stärkstes Argument für den deutschen Standort: „Wir haben Erfahrung in der Verlagerung einer ganzen Regierung“, sagte er mit Blick auf die Verlegung der Bundesregierung von Bonn nach Berlin.

Neubau erst nach Zusage

Mehr noch: „Wir garantieren der Ema, dass sie auch während ihres Umzugs an den Rhein in jeder Phase auf alle ihre Daten zugreifen kann und somit laufende Genehmigungsprozesse nicht unterbrochen werden.“ Das soll sogar gelten, wenn die Ema zunächst provisorische Gebäude beziehen würde, da ein auf die Behörde abgestimmter dreiteiliger Neubau nach modernsten Vorgaben der Energieeffizienz und des Datenzugangs erst erstellt werden soll, wenn der Zuschlag erfolge.

Für die europäischen Gremien, die im November die Entscheidung treffen wollen, damit die Agentur einen Tag nach dem Brexit am 30. März 2019 ihre Arbeit am neuen Ort aufnehmen kann, möglicherweise ein besonders zugkräftiges Argument.

Dagegen verblassen selbst Zusagen, bis zur Fertigstellung neuer Räumlichkeiten keine Miete zahlen zu müssen. Solche Lockangebote gibt es aus Lille und Wien sowie anderen Städten. Brüssel wird sich sehr darüber freuen. Denn immerhin reißt der Umzug der Ema ein Loch in die Gemeinschaftskasse von rund 230 Millionen Euro, weil man bei der Anmietung des derzeitigen Gebäudes im Finanzdistrikt Canary Wharf vergessen hatte, eine Kündigungsklausel einzufügen. Jetzt muss die EU die Miete für die volle Laufzeit bis weit nach 2030 zahlen.

Die Wahl solle „sachlich, nicht politisch“ getroffen werden, appellierte Clement in Brüssel. Auch er weiß, dass die Gefahr groß ist, wenn die europäischen Staats- und Regierungschefs am Ende politische Gegengeschäfte vereinbaren. Tatsächlich gehört die Entscheidung für den neuen Ema-Standort zu den besonders wichtigen Beschlüssen, die die Union im Zusammenhang mit dem Brexit treffen muss. Es ist der erste sichtbare und für London durchaus schmerzhafte Schritt der Trennung. Und der sollte gelingen.

Ganz abgesehen davon, dass die Behörde für die Stadt, in der sie künftig residieren wird, nicht nur ein Aushängeschild, sondern auch ein Segen für Restaurants, Hotels, den Immobilienmarkt und das Taxigewerbe sein dürfte.

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