Brexit-Chaos So könnte die Zukunft Großbritanniens aussehen

London · Am Mittwochabend hat das britische Unterhaus das so genannte No-No-Deal-Gesetz angenommen und Neuwahlen abgelehnt. Wie sieht die Lage im Königreich jetzt aus?

Das Gesetz, das diese Woche durch das Parlament gehen dürfte, könnte Boris Johnsons Handlungsspielraum erheblich einschränken. Der Premier hätte dann bis zum 19. Oktober Zeit, einen neuen Deal mit der EU auszuhandeln oder das Parlament von einem No-Deal-Brexit zu überzeugen. Schafft er weder das eine noch das andere, muss er in Brüssel offiziell um eine Verschiebung der Scheidungsfrist auf den 31. Januar 2020 bitten. Es darf davon ausgegangen werden, dass die EU einen Aufschub gewähren würde. Johnson wäre dann gezwungen, die Verzögerung sofort zu akzeptieren. Sollte Brüssel einen anderen Termin anbieten, müsste Johnson diesen Vorschlag innerhalb von zwei Tagen annehmen – außer, das britische Parlament widersetzt sich.

Was also passiert jetzt?

Der Premier hatte zunächst vor, mit Hilfe von Brexit-Hardlinern im Oberhaus den Gesetzentwurf zu stoppen. Diesen Plan hat die Regierung mittlerweile aufgegeben. Die Gesetzesvorlage dürfte die Zustimmung im House of Lords erhalten. Doch noch immer könnte Johnson durch einen brisanten Zug verhindern, dass das Gesetz in Kraft tritt. So könnte er Queen Elizabeth II. bitten, ihre Bestätigung zurückzuhalten. Erst wenn Queen Elizabeth II. einer Vorlage ihre Königliche Zustimmung (Royal Assent) erteilt, wird sie zum Gesetz. Derweil folgt die Monarchin stets dem Willen des Premiers, sie mischt sich nicht in die Politik ein. Dies wäre ein höchst umstrittenes Vorgehen.

Ist die Gefahr eines No-Deal-Brexit gebannt?

Nein, der Austritt ohne Abkommen bleibt die rechtliche Default-Option. Lediglich zwei Alternativen gibt es: Entweder die Briten einigen sich mit der EU auf einen Vertrag, der dann sowohl von der Union als auch vom Parlament in London gebilligt werden muss. Oder das Königreich bläst das Projekt Brexit ab und verbleibt Mitglied in der Staatengemeinschaft. Wenn auch nicht ausgeschlossen, ist diese Option äußerst unwahrscheinlich. Politisch wäre ein Rücktritt vom Austritt ohne Referendum nicht durchzusetzen, auch weil die zutiefst gespaltene Bevölkerung ihre Meinung laut Umfragen kaum geändert hat. Hinzu kommt, dass das proeuropäische Lager keineswegs mit einer Stimme spricht.

Welche Möglichkeiten hat die Regierung noch, um ihren harten Brexit-Kurs durchzusetzen?

Boris Johnson fordert Neuwahlen noch in den nächsten Wochen, er peilt den 15. Oktober an. Am Mittwochabend hat das Unterhaus zwar einem vorzeitigen Urnengang eine Absage erteilt, doch die Labour-Partei, die sich bei der Abstimmung enthielt, wird vermutlich ihre Meinung ändern. Bislang besteht Oppositionschef Jeremy Corbyn darauf, keine Neuwahl zu unterstützen, bis klar ist, dass die Gefahr eines No-Deal-Brexits gebannt ist. Die Opposition fürchtet, Johnson könnte den Wahltermin nach einer Abstimmung nachträglich auf einen Termin nach Halloween am 31. Oktober verschieben, um doch noch einen Brexit ohne Abkommen zu erreichen. Aber Labour drängt seit Monaten auf Neuwahlen, deshalb dürfte es noch in diesem Jahr dazu kommen.

Könnten diese noch vor dem 31. Oktober stattfinden, wie Boris Johnson fordert?

Ja, auch wenn sich der Premierminister beeilen muss aufgrund der Zwangspause, die er dem Parlament auferlegt hat. Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass er wartet, bis das No-No-Deal-Gesetz die Königliche Zustimmung erhalten hat, was bis kommenden Montag passieren sollte, und dann das Unterhaus abermals über Neuwahlen abstimmen lässt. Er benötigt eine Zweidrittelmehrheit. Nur, die Zeit wird knapp. Eigentlich ist die Dauer des Wahlkampfs auf 25 Werktage festgesetzt. Diese Regelung müsste unter Umständen geändert werden. Johnson bietet sich jedoch eine weitere, drastischere Option. Es könnte zu der absurden Situation kommen, dass die britische Regierung, die in dieser Woche ihre Mehrheit im Parlament eingebüßt hat, sich selbst das Vertrauen entzieht und einen Misstrauensantrag gegen sich stellt. Es ist schwer vorstellbar, dass Labour der Regierung das Vertrauen ausspricht. Ein Misstrauensvotum erfordert lediglich eine einfache Mehrheit. Weil dieses Prozedere jedoch mehr Zeit in Anspruch nimmt, wäre eine Wahl vor Halloween eigentlich ausgeschlossen.

Warum pocht Johnson so vehement auf Neuwahlen?

In allen Umfragen liegt der Premierminister vor Jeremy Corbyn, dem altlinken Oppositionschef der Labour-Partei,. Deshalb rechnet sich Johnson gute Chancen aus. Zudem steckt der Regierungschef in einem ähnlichen Dilemma wie seine Vorgängerin Theresa May. Die völlig zerstrittene konservative Partei kann sich auf keinen Kompromiss einigen, nun hat Johnson auch noch die Mehrheit im Parlament eingebüßt. Er ist ein zahnloser Tiger. Sollte es zu einer Neuwahl bis zum 15. Oktober kommen, dürfte der Premier mit seiner Kampagne auf die europaskeptischen Wähler abzielen und auf dem Ticket No Deal fahren, auch um den zunehmenden Erfolg der Brexit-Partei unter dem Rechtspopulisten Nigel Farage zu stoppen. Erreicht Johnson mit dieser Strategie tatsächlich eine Mehrheit, ist es unwahrscheinlich, dass sich die Abgeordneten aus den eigenen Reihen länger gegen einen ungeordneten Brexit wehren. Denn dann, so Johnsons Plan, könnte er tatsächlich behaupten, den Willen des Volks auszuführen – und das noch bis zum 31. Oktober.

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