U-Ausschuss: Polizei in NRW warnte deutlich vor Anschlag

Berlin · Welche Gefahr ging vom späteren Terroristen Anis Amri aus? Das schätzten Experten bei der Polizei in Nordrhein-Westfalen und Berlin laut Zeugenaussagen aus den beiden Landeskriminalämtern höchst unterschiedlich ein.

Die Terrorexperten in Nordrhein-Westfalen und Berlin haben die Gefährlichkeit des späteren islamistischen Attentäters Anis Amri vor dem Anschlag nach eigenen Angaben ganz unterschiedlich eingestuft. In NRW sei Amri schon knapp ein Jahr vor dem Anschlag als "äußerst gefährlich" eingeschätzt worden, sagte ein hochrangiger Zeuge vom Landeskriminalamt NRW am Freitag im Berliner Untersuchungsausschuss zum Terroranschlag. Man habe einen Anschlag für wahrscheinlich gehalten.

Die Berliner Kripo habe diese Bewertung Anfang 2016 aber nicht geteilt, sagte der Zeuge. Ein Anschlag in Deutschland sei vom Berliner LKA für nicht wahrscheinlich gehalten worden, man habe so eine Tat eher in den Kriegsgebieten in Syrien erwartet. Ein Vertreter des Berliner LKA, der ansonsten wenig Neues beitrug, konnte sich hingegen an unterschiedliche Meinungen nicht erinnern. "Die Einschätzungen mit NRW waren alle einvernehmlich."

Der Zeuge vom LKA in NRW war Leiter der Ermittlungskommission "EK Ventum", die sich mit einem islamistischen Netzwerk befasste. Er berichtete aus gemeinsamen Besprechungen Mitte Februar 2016, an denen die Landeskriminalämter NRW und Berlin und auch das Bundeskriminalamt beteiligt waren. Er und seine Kollegen hätten damals betont, dass Amris Entwicklung, seine Bewegungen, seine Ansprechpartner und seine Chats darauf hinwiesen, dass er einen Anschlag in Deutschland und zwar vermutlich in Berlin plane. Die Terrorexperten vom Berliner LKA hätten sich aber nicht überzeugen lassen.

Im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum sei Amri auf die Gefährlichkeitsstufe 5 von 8 gesetzt worden, sagte der Zeuge M. "Ich habe schon deutlich gemacht, dass ich ihn höher einstufen würde, auf 4 von 8. Und dass er drauf und dran ist, dass er hier in Deutschland was macht." Er räumte aber auch ein, die Auswertung von abgehörten Chats von Amri mit Tausenden Nachrichten auf arabisch sei den Kollegen in Berlin erst einen Tag vor dieser Beratung zugegangen. Das sei möglicherweise zu knapp gewesen.

Rückblickend sagte M., der Fall Amri sei damals zwar ein besonderer gewesen. "Aber er war nicht der herausragende Fall. Es gab mindestens noch drei weitere Personen, die Anschläge planten. Daher hatte Amri kein Alleinstellungsmerkmal. Aber er war schon sehr wichtig." Trotzdem habe die Staatsanwaltschaft in Duisburg leider ein Ermittlungsverfahren gegen Amri abgelehnt. Es sei kein hinreichender Anfangsverdacht festgestellt worden.

Ungehört blieb die Polizei aus NRW auch am 18. Februar 2016, als sie die Berliner Kollegen um die geheime Observation des später in Berlin eintreffenden Amri bat. Das LKA Berlin habe das morgens zugesagt, sei dann aber nicht mehr zu erreichen gewesen - auch wegen eines "Führungskräfteseminars", wie es laut dem Zeugen von Berlin nach NRW übermittelt worden sei. Mittags übernahm dann ein anderer Mitarbeiter die Sache und ordnete kurzfristig die Festnahme Amris an. Die Polizei in NRW war brüskiert. Amri rief seine Freunde und Unterstützer an und warnte sie vor der Polizei, die jetzt seine Handydaten hatte.

Der Berliner LKA-Mann bestätigte das Seminar seiner Abteilung, meinte aber, natürlich seien alle telefonisch erreichbar gewesen.

Der Ausschussvorsitzende Burkard Dregger (CDU) sagte. "Es gibt erhebliche Anhaltspunkte, dass man beim LKA Berlin nicht vorbereitet war." Das sei nicht ideal gelaufen. Der SPD-Innenpolitiker Frank Zimmermann kritisierte die Berliner Polizei. Man könne nicht alles auf Personalangpässe schieben. Die Erkenntnisse aus NRW seien nicht genug gewürdigt worden. Zudem habe es strukturelle Probleme gegeben.

In den vergangenen Ausschuss-Sitzungen zeigte sich mehrfach diese unterschiedliche Richtung bei den Aussagen der Polizeivertreter aus NRW und Berlin. Die Kripo in NRW, die nur anfangs für Amri zuständig war, betonte, man habe alles für eine strenge Überwachung getan. Der damalige Leiter des politischen Staatsschutzes im LKA NRW sagte im Januar: "Wir waren der Überzeugung, dass Amri der besonderen Beobachtung bedarf. Wir haben den für gefährlich gehalten."

Die Berliner Kripo verweist hingegen zum einen auf die massive Überlastung und eine dramatische Situation bei den Anti-Terror-Abteilungen. Zum anderen heißt es immer, man habe die Gefährlichkeit Amris "nicht als hoch" eingeschätzt. "Es hat nichts dafür gesprochen, dass es in diese Richtung gehen wird", sagte die Leiterin des für politisch motivierte Taten zuständigen Staatsschutzes im Landeskriminalamt, Jutta Porzucek.

Bei dem Terroranschlag auf dem Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche starben am 19. Dezember 2016 zwölf Menschen, mehr als 70 wurden verletzt. Amri, der sich unter verschiedenen Identitäten als Asylbewerber in mehreren Bundesländern aufgehalten hatte, wurde nach dem Anschlag auf der Flucht von italienischen Polizisten erschossen.

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