Interview mit Hannelore Kraft „Ich will keine Mauer um mich bauen“

Bonn · Ministerpräsidentin Hannelore Kraft über die Kölner Silvesternacht, mögliche Koalitionspartner in NRW, den Schuldenabbau und ihren Umgang mit persönlicher Kritik.

Die Opposition wirft der Landesregierung „organisatorisches Versagen“ vor, weil es nach den Kölner Silvesterübergriffen tagelang keine Reaktion von Ihnen gab. Haben Sie sich inzwischen in den NRW-Verteiler „Wichtige Ereignisse“ (WE) aufnehmen lassen?

Hannelore Kraft: Meine Mitarbeiter in der Staatskanzlei erhalten diese so genannten WE-Meldungen nur zur Information. Die erforderlichen polizeilichen Maßnahmen werden von den Polizeibehörden eingeleitet und gesteuert. Von November 2015 bis Januar 2016 waren das mehr als 200 Meldungen, die an die Staatskanzlei gegangen sind. Meine Mitarbeiter entscheiden auch weiterhin eigenständig, über welche Vorfälle aus den WE-Meldungen sie mich direkt informieren. Ich habe die WE-Meldungen zur Silvesternacht im Nachhinein gelesen und auch nicht die erst später erkennbare Dimension der Vorfälle ablesen können.

Wie sollen ähnliche Kommunikationspannen in Zukunft vermieden werden?

Kraft: Die Dimension der schrecklichen Ereignisse an Silvester in Köln, aber auch in anderen Städten wie Hamburg oder Stuttgart, ist erst vom 4. Januar an deutlich geworden. Wir haben seither offen und transparent kommuniziert. Es wurde nichts vertuscht, weil es nichts zu vertuschen gab.

Die Kölner Bürgermeisterin Henriette Reker hat angemerkt, dass die Kanzlerin sie angerufen habe, nicht aber Ministerpräsident Kraft. Gibt es mittlerweile mehr Austausch?

Kraft: So habe ich das nicht aufgefasst. Laut Zeitungsberichten hat Frau Reker auch gesagt, dass sie auch nicht erwartet hätte, dass ich aktiv anrufe.

Haben Sie sich denn in der Zwischenzeit gemeldet?

Kraft: Wir haben uns vor Kurzem noch zum Fastenbrechen in Köln getroffen.

Gibt es irgendwelche organisatorischen Änderungen in der Kommunikation zwischen Staatskanzlei, Ministerien und Polizei, die nach der Silvesternacht vorgenommen worden sind?

Kraft: Die Staatskanzlei nimmt an keiner Stelle direkten Einfluss auf Ermittlungen und Entscheidungen der Polizei. Und die Kommunikation zwischen der Staatskanzlei und dem Innenministerium war von dem Zeitpunkt an, als die Dimension an dem Montag bekannt wurde, offen und transparent.

Es gibt neue Zahlen, nach denen die Mitgliederzahlen aller Parteien zurückgehen. Die SPD ist mittlerweile nur noch zweitgrößte Partei, die AfD verzeichnet hingegen Zulauf. Sind das Krisensymptome der Demokratie?

Kraft: Bei den Mitgliedszahlen ist mal die CDU vorn, dann wieder wir. Aber für Parteien gilt ebenso wie für alle großen Organisationen, dass sich Menschen, insbesondere jüngere, weniger in feste Strukturen einbinden. Sie sind aber trotzdem im ehrenamtlichen Bereich sehr aktiv. Gerade in der Flüchtlingsbetreuung habe ich das immer wieder sehr eindrucksvoll erlebt.

Müssen die Parteien sich ändern? Muss die SPD andere Wege finden?

Kraft: Das tun wir bereits. Die NRW-SPD hat sich vor zwei Jahren auf den Weg gemacht und unter dem Motto „Fundament stärken!“. Wir haben uns in dem Projekt unter anderem damit beschäftigt, wie wir besser werden können, aus losen Kontakten dauerhaft feste Bindungen mit Bürgerinnen und Bürgern aufzubauen. Nicht nur im Wahlkampf. Felix von Grünberg hier in Bonn ist dafür ein hervorragendes Beispiel. Er steht wie kaum ein anderer für die Kümmerer-Partei SPD, der mit seiner Sprechstunde seit Jahrzehnten denen hilft, die anderswo kein Gehör finden.

Der Zulauf zur AfD verhält sich indessen mit einer bemerkenswerten Stabilität.

Kraft: Naja, warten wir das doch mal ab. Derzeit sinkt die Zustimmung zur AfD auch wieder. Wir müssen die AfD hart inhaltlich stellen. Es geht darum, deutlich zu machen, dass die vermeintlich einfachen Antworten keine wirkliche Lösung sind. Die AfD versucht durch gezielte Provokationen in die Schlagzeilen zu kommen, um dann hinterher zu sagen, so sei es ja gar nicht gemeint gewesen. Diese Wolf-im-Schafspelz-Inszenierung muss man entlarven.

Nehmen Sie die AfD als Konkurrenz zur SPD wahr, die bislang als Stimme der sozial Schwachen und Abgehängten stand?

Kraft: An ihrem Wahlprogramm sieht man ja, dass die AfD nicht die soziale Partei ist, als die sich darstellt. Die Arbeitslosenversicherung soll etwa so verändert werden, dass sie faktisch nicht mehr existiert – um nur ein Beispiel zu nennen. Und auch Fremdenfeindlichkeit hat keinen Platz in der SPD.

Parteichef Sigmar Gabriel hat eine Debatte angestoßen zu einer möglichen Koalition aus Rot-Rot-Grün im nächsten Jahr. Was halten Sie davon?

Kraft: Sigmar Gabriel hat eine Debatte angestoßen in der Frage, ob die progressiven Kräfte sich gegen Rechts zusammenschließen und aufstellen sollten. Das halte ich für eine sehr sinnvolle Debatte. Die SPD hat 2013 die Entscheidung getroffen, wie andere Parteien grundsätzlich keine Ausschließeritis zu betreiben. Dazu stehe ich. Dennoch bin ich gerade nach den Erfahrungen in Nordrhein-Westfalen nachhaltig der Auffassung, dass die Linkspartei weder regierungswillig noch regierungsfähig ist. Auch auf Bundesebene sehe ich eine gespaltene Partei; das gilt auch für die politischen Positionen. Einige in der Partei wollen regieren, andere nicht.

NRW hatte in den letzten Wochen mit schlechten Nachrichten zu kämpfen – Nullwachstum, weiterhin hohe Arbeitslosigkeit im Ruhrgebiet, steigende Kinderarmut, hohe Kriminalität. Ist es schwierig, mit einer solchen Bilanz nach einigen Jahren Rot-Grün in den Wahlkampf zu ziehen?

Kraft: Diese Schwarz-Weiß-Malerei bringt uns nicht weiter. Stichwort Kriminalität: Bei Mord und Totschlag liegen wir auf der niedrigsten Kriminalitätsrate seit 20 Jahren. Und die Zahl der Einbrüche steigt nicht nur in NRW sondern bundesweit. Und Kinderarmut ist immer Erwachsenenarmut und hat häufig mit Arbeitslosigkeit der Eltern zu tun. Wir haben Regionen wie Ost- oder Südwestfalen, in denen es fast Vollbeschäftigung gibt. Mit 9,18 Millionen Erwerbstätigen haben wir mehr Menschen in Arbeit als je zuvor. Und die Landesregierung hat schon sehr früh, eine umfassende Digitalstrategie aufgebaut, denn wir wissen, dass der digitale Wandel die zentrale Herausforderung für unsere Wirtschaft ist.

Ist eine Digitalstrategie wirklich ein Thema, das Wähler – etwa im gebeutelten Ruhrgebiet mit seinen vielen existenziellen Problemen – bewegt?

Kraft: Jetzt aber mal bitte die Kirche im Dorf lassen! Wir hatten 2014 im Ruhrgebiet ein vergleichbares Wirtschaftswachstum wie im Bund.

Die Arbeitslosigkeit im Ruhrgebiet ist aber nun doch seit Jahren unverändert zweistellig.

Kraft: Wir haben im Kern-Ruhrgebiet eine verhärtete Langzeitarbeitslosigkeit. Dagegen müssen wir mehr tun. Wir wollen deutlich mehr Plätze in einem sozialen Arbeitsmarkt, der Langzeitarbeitslosen im Rahmen ihrer Möglichkeiten unbefristete Arbeitsplätze bietet. Und trotz dieser Langzeitarbeitslosigkeit haben wir auch im Ruhrgebiet mit 2,3 Millionen heute genauso viele Beschäftigte wie zu besten Zeiten von Kohle und Stahl. Und das Revier gestaltet den Wandel aktiv: In den vergangenen Monaten haben allein Post, Arvato und Opel die Schaffung von 1600 neuen Arbeitsplätzen angekündigt. Bei der Metro in Marl entstehen 1000 neue Jobs ab 2017. Es tut sich viel im Ruhrgebiet.

Davon scheint wenig in den Städten anzukommen. Oberhausen war schon vor 15 Jahren in einer schwierigen Lage, heute ist es dort einfach nur noch trostlos.

Kraft: Dieser Miesepeterei widerspreche ich entschieden! Oberhausen hat mit dem Centro ein Einkaufszentrum mit großer Anziehungskraft. Das ist für die Einzelhändler in der Innenstadt natürlich eine große Konkurrenz. Aber ich bestreite nicht, dass es auch schwierige Stadtviertel gibt. Dort entwickeln wir mit den Kommunen Stadtteilprojekte – genau wie hier in Tannenbusch –, um den Vierteln eine gute Perspektive zu geben. Vielleicht habe ich da einen etwas breiteren Blick aufs Ruhrgebiet.

Tatsächlich? Viele Menschen im Ruhrgebiet würden nicht sagen, dass es vorwärts gehen oder die Lage besser werden würde...

Kraft: Das nehme ich völlig anders wahr. Die Bürgerinnen und Bürger im Ruhrgebiet sind stolz auf das, was sie geschafft haben. Die packen an. Sie wissen, wie man Wandel erfolgreich gestaltet. Schauen Sie sich mal dagegen die alten Kohle- und Stahlgebiete in England oder Nordfrankreich an. Dann wissen Sie, was das Ruhrgebiet an Erfolg vorweisen kann.

Die Steuereinnahmen in NRW steigen, was zeigt, dass die Wirtschaft funktioniert. Schuldenabbau findet jedoch nicht statt. Warum ändert sich daran nichts?

Kraft: Wir haben die Neuverschuldung seit 2010 um zwei Drittel reduziert. Das zeigt, dass wir gut unterwegs sind. Wir werden die Schuldenbremse 2020 einhalten. Aber wir haben auch immer gesagt, dass wir in Zukunftsbereiche investieren müssen – insbesondere in die Bildung. Seit 2010 haben wir 170 Milliarden Euro in Kinder, Familie und Bildung investiert, jeder dritte Euro des Landeshaushaltes geht in dieses Feld. Und wir machen weiter: Wir erarbeiten gerade ein Zwei-Milliarden-Paket „Gute Schule 2020“, bei dem die Kommunen ab 2017 zins- und tilgungsfrei Landesgeld für Schulsanierungen und Schule 4.0 erhalten, obwohl dies eigentlich Aufgabe der Kommunen ist. Doch ein gutes Lernumfeld ist für den Bildungserfolg unserer Kinder wichtig. Die große Bedeutung von Bildung ist auch in meinen vielen Gesprächen mit der Wirtschaft häufig Thema. Drittens verfolgen wir eine Erhöhung der Einnahmen, indem wir Steuersünder jagen. Das halte ich für richtig, das hat auch etwas mit Gerechtigkeit zu tun.

Noch einmal zurück zum Thema Strukturwandel: Was ist Ihre industriepolitische Vision für das Rheinische Revier?

Kraft: Wir haben schon 2011 die Innovationsregion Rheinisches Revier mit einer eigenen Gesellschaft auf den Weg gebracht, die Ideen für die Zeit nach dem Ende der Braunkohle entwickelt. Wir unterstützen Umbau und Wandel. Im Bereich der erneuerbaren Energien sind Zehntausende neue Arbeitsplätze entstanden. So kommt zum Beispiel fast jedes zweite Getriebe einer Windkraftanlage aus NRW. Es ist unsere Aufgabe, auch weiterhin dafür zu sorgen, dass neue Branchen und Start-ups in NRW Zukunft haben. Das gilt auch für die Weiterentwicklung der Wissensregion Aachen mit Auslagerungen auch in die Region hinein. Wir müssen soziale und ökonomische Brüche vermeiden.

Sie sind in letzter Zeit medial ziemlich angegriffen worden. Wie sehr kränkt Sie diese Resonanz? Inwieweit empfinden Sie Politik als Knochenjob?

Kraft: Mich kränkt kein Artikel. Dafür bin ich zu lange im Geschäft. Es ärgert mich höchstens, dass es dabei oftmals mehr um Verhalten als um Inhalte geht und alles politisch interpretiert wird. Manchmal kann eine Stimmungslage aber auch ganz andere Gründe haben. Ich will mich aber nicht abschotten und eine Mauer um mich herum aufbauen. Denn das ist nicht meine Art, wie ich Politik machen möchte. Menschen sollen offen auf mich zukommen können, dafür muss auch ich offen für sie sein. So bin ich, das ist meine Persönlichkeit.

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