Kommentar zu 70 Jahren Grundgesetz Nicht zurücklehnen

Meinung | Bonn · Vor 70 Jahren hat der Parlamentarische Rat in Bonn das Grundgesetz verabschiedet. An dessen Werte darf man sich heute noch einmal erinnern, kommentiert GA-Redakteur Nils Rüdel.

 Eine Ausgabe des Grundgesetzes.

Eine Ausgabe des Grundgesetzes.

Foto: picture alliance/dpa

Als der Parlamentarische Rat vor 70 Jahren in Bonn das Grundgesetz verabschiedete, war das den meisten Zeitungen noch nicht einmal eine Titelschlagzeile wert. Die Menschen hatten schon den Beratungen wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Sie sorgten sich eher darum, wie sie Essen auf den Tisch bekommen und im zerstörten Deutschland eine Zukunft aufbauen.

Aus dem vermeintlichen Provisorium, als das das Grundgesetz angelegt war, aber wurde ein historischer Erfolg. Die Demokratie ist stabil und wird von einer breiten Mehrheit akzeptiert. Auch der Staat hat sich mit seiner zurückhaltenden Rolle weitgehend abgefunden und wurde bei Übergriffen im Zweifel vom Bundesverfassungsgericht zurückgepfiffen. Es wäre also verfrüht, das Ende der Ära der liberalen Demokratie insgesamt auszurufen – trotz illiberaler Entwicklungen in Ländern wie Polen oder Ungarn. Darauf hat nicht nur der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck kürzlich noch einmal hingewiesen.

Miteinander muss Sorgen bereiten

Wem unsere Demokratie am Herzen liegt, kann sich dennoch nicht einfach zurücklehnen.Wenn auch nicht die Staatsform als solche unmittelbar in Gefahr ist, so ist es doch der Zustand des demokratischen Miteinanders, der Sorgen bereiten muss. Gesellschaftliche Debatten haben ein Ausmaß der Verrohung erreicht, wie es vor Kurzem noch nicht denkbar war. Extreme Meinungen und Herabwürdigungen hat es zwar immer schon gegeben, aber nun – potenziert durch die „sozialen“ Medien – bekommen sie eine nie dagewesene Aufmerksamkeit und fressen sich so allmählich von den Rändern in die politische Mitte vor.

Exemplarisch ist das immer wieder beim Thema Migration zu beobachten. Wer einen anderen als „Nazi“ beschimpft, weil sich dieser um Identität und Integrationsfähigkeit der Gesellschaft sorgt, verabschiedet sich aus dem demokratischen Diskurs. Wer einen anderen „Volksverräter“ nennt, weil dieser für offene Grenzen eintritt, ebenfalls. Wird der politische Gegner zum Idioten oder gar zum Feind erklärt, wird die eigene Meinung als das einzig Wahre und jede Abweichung davon als unmoralischverteufelt, dann wird es gefährlich. Dann bilden sich gesellschaftliche Einzelgruppen, die in den Echokammern der eigenen Meinung vor sich hinschimpfen, sich dabei gegenseitig bestärken und jede Verbindung zu anderen Gruppen kappen. Der Populismus von rechts und links freut sich darüber.

Erinnern an Werte

Das Bundesverfassungsgericht hat die Meinungsfreiheit aus Artikel 5 Grundgesetz stets weit ausgelegt. Dazu gehört es, die Meinung des anderen zumindest anzuhören und zu tolerieren. Hier soll nicht einem friedlich-fröhlich-harmonischen Konsens das Wort geredet werden. Im Gegenteil: Demokratie braucht Streit und Wettbewerb, sonst wird sie müde und erschlafft. Aber man sollte das Verbindende nicht aus den Augen verlieren, nämlich die Werte, die das Grundgesetz vorgibt: Würde und Freiheit des Einzelnen, Demokratie, Rechtsstaat und Sozialstaatlichkeit. Diese Werte haben 70 Jahre Bestand gehabt, daran darf man sich zum Geburtstag des Grundgesetzes noch einmal erinnern. Den extremen Rändern nahezulegen, sie mögen verbal abrüsten, ist müßig. Auf die politische Mitte kommt es an.

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