Arbeitsmarkt Karl Brenke: "Verdi steht unter Druck"

BERLIN · GA-Interview mit dem Arbeitsmarkt-Experten des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung, Karl Brenke.

Wird in Deutschland zu viel gestreikt?
Karl Brenke: Was ist der Maßstab für eine angemessene Streikhäufigkeit? Den gibt es nicht. Aber natürlich ist es immer besser, Tarifauseinandersetzungen friedlich zu entscheiden als durch einen Arbeitskampf.

Glauben Sie, das klappt für diese Auseinandersetzung?
Brenke: Im aktuellen Falle kommt Verdi mit sehr hohen Forderungen. Die Arbeitgeber hatten indes zunächst überhaupt kein Angebot vorgelegt und bieten nun Lohnsteigerungen von etwa 1,7 Prozent pro Jahr an, was angesichts der Teuerung zu Reallohnverlusten für die Arbeitnehmer führen würde. So etwas ist zweifellos provozierend.

Wie hoch schätzen Sie den gesamtwirtschaftlichen Schaden durch die Verdi-Streiks?
Brenke: Den kann niemand seriös berechnen, denn ein großer Teil der ausgefallenen Arbeit wird nachgeholt. Beispielsweise bleibt der nicht abgeholte Müll ja nicht ewig liegen.

Wie steht Deutschland an Streiktagen im Europäischen Vergleich dar?
Brenke: In Deutschland bestehen eher kooperative Beziehungen zwischen den Tarifpartnern - ähnlich wie in der Schweiz, Österreich oder Teilen Skandinaviens. Deshalb wird hierzulande relativ wenig gestreikt. Viel größer - und zwar um ein Mehrfaches - ist die Streikhäufigkeit etwa in Spanien, Italien oder Frankreich. Hier spielt auch noch eine Rolle, dass es konkurrierende Gewerkschaften mit unterschiedlicher politischer Ausrichtung gibt, die sich mit Streiks versuchen zu profilieren.

Ihre Einschätzung über die Haltung der Deutschen Gewerkschaften?
Brenke: In Deutschland waren die Gewerkschaften im letzten Jahrzehnt zu sehr auf Konsens ausgerichtet, was zur Folge hatte, dass sich die Löhne und damit auch die Binnennachfrage außerordentlich schwach entwickelten. Hier scheint es nun ein Umdenken zu geben.

Rechnen Sie mit der Bereitschaft Verdis zu einem flächendeckenden Streik?
Brenke: Verdi zeigt sich dieses Mal sehr kämpferisch. Deshalb ist es durchaus wahrscheinlich, dass die Streiks ausgeweitet werden und es sogar zur Urabstimmung für einen flächendeckenden Streik kommt. Verdi steht auch selbst unter Druck: Um einen weiteren Mitgliederschwund abzubremsen, muss die Gewerkschaft Erfolge vorweisen.

Zur Person: Der 1952 geborene Arbeitsmarkt-Experte des DIW ist für den Vorstand als wissenschaftlicher Referent tätig. Seine Schwerpunkte sind Konjunkturanalyse sowie Prognosen über die wirtschaftliche Entwicklung.

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