Interview mit Arno Kompatscher „Es bringt in Europa nichts, sich national abzugrenzen“

Südtirol · Der Südtiroler Landeshauptmann Arno Kompatscher über Solidarität in Europa, Urlaub in Corona-Zeiten, die Debatte über die Finanzierung der Corona-Folgekosten und krude Verschwörungstheorien gegen den Staat.

 Der Südtiroler Landeshauptmann Arno Kompatscher.

Der Südtiroler Landeshauptmann Arno Kompatscher.

Foto: LPA/Ivo Corrà

Südtirol ist eine der beliebtesten Regionen in Europa für deutsche Urlauber. Der Südtiroler Landeshauptmann Arno Kompatscher führt mit die wohlhabendste Provinz in Italien, in Normalzeiten also eine Region mit wenig Sorgen. Doch Corona hat auch hier vieles verändert. Urlauber dürfen seit März nicht mehr ins Land. Mit Kompatscher sprach Holger Möhle.

Herr Kompatscher, Deutschland will zum 15. Juni seine weltweite Reisewarnung aufgeben, Italien öffnet zum 3. Juni seine Grenzen wieder für Ausländer. Haben Sie Hoffnung, dass die Urlaubssaison doch noch gerettet werden kann?

Kompatscher: Wir werden mit Sicherheit keine normale Saison mehr haben, wie wir sie bislang gekannt haben. Es wird Beschränkungen und Regeln im persönlichen Kontakt geben für Personen, die nicht in einer gemeinsamen Wohnung leben. Trotzdem hoffen wir auf ein Stück weit Normalität und darauf, dass viele Besucher auch aus Deutschland die Vorzüge unserer Landschaft, unsere Küche und unsere Kultur genießen können. Das ist für unsere Wirtschaft fundamental wichtig.

Auf welche Einschränkungen müssen sich deutsche Urlauber in Südtirol einstellen?

Kompatscher: Vor allem die Betriebe sind gefordert, die Gastgeber unserer Gäste. Wir haben sehr strenge Regeln für das Personal, das ständig getestet wird. In den Wellness-Abteilungen der Hotels gelten sehr strikte Richtlinien, wo wir eine Covid-Safe-Area geschaffen haben. Wir haben sehr viele Auflagen für die Gastwirte, die Gäste selbst werden davon weniger merken.

Welchen Erholungswert hat Auslandsurlaub in Pandemiezeiten, in denen Urlauber in ständiger Wachsamkeit leben müssen?

Kompatscher: Das Hotel ist ja bereits ein geschützter Raum. Die Vorschriften für die Betreiber haben wir so gefasst, dass das Ansteckungsrisiko für die Gäste möglichst gering bleibt. Südtirol heißt für viele ja Urlaub in der Natur, wo man gut für sich alleine unterwegs sein kann. Beim Wandern oder Radfahren. Massentourismus mit Après-Ski-Faktor haben wir ja nicht.

Italiens Außenminister Luigi Di Maio hat sich gegen Sonderabsprachen einzelner Regierungen und gegen bestimmte offene Korridore für Touristen ausgesprochen. Deutschlands Außenminister Heiko Maas sagt, Deutschland habe als Reiseweltmeister eine besondere Verantwortung für ein koordiniertes Vorgehen in Europa. Was hilft Ihrer Region?

Kompatscher: Ich plädiere für eine europäische Lösung. Das heißt nicht, dass man sofort, ohne nachzudenken in alle Länder reisen soll. Wer jetzt Grenzen für Urlauber öffnet, muss Sicherheits- und Hygienestandards gewährleisten. Aber das sollte in Europa einheitlich erfolgen. Wir brauchen völlige Transparenz über die jeweilige epidemiologische Situation. Man muss einschätzen können, wie hoch die Zahl der Infizierten im Vergleich zur Zahl der Tests in einem Land oder einer Region ist. Wir haben in Südtirol entschieden: Wir legen alles offen. Wir haben den Wunsch, dass in unserer Expertenkommission auch Wissenschaftler aus Deutschland, bestmöglich vom Robert-Koch-Institut selbst, mitarbeiten. Wir wollen ja belegen, dass wir eine sichere Region sind.

An Deutschland hat es zu Beginn der Pandemie gerade aus Italien viel Kritik gegeben. Ministerpräsident Guiseppe Conte warf Berlin nationalen Egoismus vor, weil es unsolidarisch sei, wenn Deutschland gemeinsame europäische Anleihen zur Finanzierung der Kosten der Corona-Krise ablehne. Zu Recht?

Kompatscher: Ich glaube, wir müssen da eine Reihe von Missverständnissen ausräumen. Als Südtiroler leben wir in zwei Kulturen und erleben auch zwei Arten von Meinung und öffentlicher Wahrnehmung. Es stimmt nicht, dass Deutschland und andere Staaten Italiens Schulden bezahlen müssen. Italien ist nach Deutschland und Frankreich der drittgrößte Nettozahler der EU. Auf der anderen Seite gibt es in Italien die Vorstellung, dass Europa mit Deutschland an der Spitze schuld sei, wenn in Italien die Dinge nicht richtig laufen. Da wäre es besser, wenn Italien bei Arbeitsmarkt, Strukturreformen oder Bürokratieabbau erst einmal selbst seine Hausaufgaben machen würde. Seine Wirtschaft muss Italien vor allem selbst zum Laufen bringen.

Deutschland und Frankreich haben jetzt vorgeschlagen, die EU könne 500 Milliarden Euro an den Finanzmärkten aufnehmen und in den EU-Haushalt für die am stärksten getroffenen Regionen und Sektoren einspeisen – wohl gemerkt als Zuschüsse, nicht als Kredite, die sie national zurückzahlen müssten…

Kompatscher: Das ist eine echte Hilfe für die am stärksten von der Pandemie betroffenen Staaten Spanien und Italien, aber auch Frankreich. Keine Frage: Alles, was der italienischen Gesamtwirtschaft hilft, das hilft auch Südtirol. Denn wir sind natürlich auch von der italienischen Nachfrage abhängig. Wir haben mit unserer Autonomie auch eine Finanzautonomie. Während Italiens Kreditwürdigkeit an den Finanzmärkten relativ schlecht bewertet wird, hat Südtirol Triple A, dreimal A, so wie Deutschland. Diese Unabhängigkeit hilft uns auch in diesen schwierigen Zeiten. Trotzdem ist es für uns wichtig, dass Italien in die Gänge kommt. Das hilft Europa, und es hilft auch Südtirol.

Bei Regionen und Sektoren ist man schnell beim Tourismus in Südtirol. Kann dieses 500-Milliarden-Euro-Programm zur wirtschaftlichen Erholung Insolvenzen Ihrer touristischen Betriebe verhindern?

Kompatscher: Davon gehe ich aus. Wir müssen, wo es geht, Arbeitsplätze erhalten, und wir müssen Betrieben aller Größen durch diese Krise helfen. Der Tourismus in Südtirol ist der Motor unserer Wirtschaft mit 17 Prozent Anteil am Bruttoinlandsprodukt. Viele Familienbetriebe im Tourismus haben in den vergangenen Jahren enorm investiert und sich verschuldet. Denen müssen wir helfen, wo Einnahmen kurzfristig wegbrechen. Es geht um Stundungen von Krediten, es geht um Überbrückung oder sogar um treuhänderischen Einstieg des Landes ins Kapital von Betrieben, damit diese schwierige Phase überwunden werden kann. Hier können europäische Programme natürlich helfen.

Nachbar Österreich will nur einen Fonds zur wirtschaftlichen Erholung mit rückzahlbaren Krediten. Gehen Sie da mit?

Kompatscher: Die Idee eines europäischen Recovery Fonds, der durch gemeinsame Anleihen finanziert wird, will ja dafür sorgen, dass Staaten möglichst günstig, also zu niedrigen Zinsen, an frisches Geld kommen. Dabei geht es darum, durch gemeinsame Haftung die Zinslast niedrig zu halten, aber jeder Staat müsste für seinen Anteil an den Schulden selbst geradestehen. Was jetzt kommt, ist für die beteiligten Staaten möglicherweise teurer als der italienische Vorschlag gemeinsamer Anleihen, sogenannter Eurobonds.

…eine inzwischen belastete Vokabel…

Kompatscher: Der Begriff „Eurobonds“ ist nach all dem Streit darüber verbrannt. Wer jetzt den Staaten, die die Corona-Krise besonders hart getroffen hat, nur über rückzahlbare Kredite helfen will, der springt zu kurz. Man muss sich in Europa wieder einmal einigen. Wer jetzt Nein sagt, etwa zum Merkel-Macron-Vorschlag, Corona-Kosten als Zuschüsse, die von den Staaten nicht zurückgezahlt werden müssen, aus dem EU-Haushalt zu bezahlen, schadet sich selbst.

Sie leben ja in der Europa-Region Tirol-Südtirol-Trentino. Kann sich an der Art und Weise, wie Europa mit der Corona-Krise umgeht, auch die Zukunft der EU entscheiden?

Kompatscher: Jedes Mal, wenn Europa in einer Krise steckt, erleben wir die Rückkehr zu nationalen Reflexen. Wer versucht, die Dinge für sich, für den eigenen Staat zu regeln, handelt aber falsch. Denn das ist nicht Europa und es funktioniert in einer globalisierten Welt auch nicht. So war es zunächst bei der Finanzkrise ab 2008, dann bei der Flüchtlingskrise 2015 und jetzt erleben wir es wieder. Am Ende brauchen wir eine europäische Lösung. Auch jetzt. Möglicherweise ist die EU organisatorisch-strukturell nicht gut genug aufgestellt. Auf der anderen Seite ist die EU nichts anderes als die Summe ihrer Mitgliedsstaaten. Die europäischen Regierungen scheinen derzeit zu schwach zu sein, den Mut zum Kompromiss zu haben.

Wie groß sind die Gefahren für den Zusammenhalt Europas durch Extremisten und Verschwörungstheoretiker?

Kompatscher: Die Demonstrationen gegen Beschränkungen sind Ausdruck eines mangelnden Vertrauens der Bürgerinnen und Bürger in ihre eigenen Regierungen. Verschwörungstheorien hat es immer gegeben, aber die Breite, in der sie jetzt auf fruchtbaren Boden fallen, ist schon beeindruckend. Persönlicher Frust über „die da oben“ mischt sich mit einer allgemeinen Verunsicherung in einer globalisierten, digitalisierten, sich ständig verändernden Welt. Dagegen hilft nur Transparenz und der Versuch, diese sich verändernde Welt so gut wie möglich zu erklären.

Welche Lektion kann Europa aus dieser Pandemie lernen?

Kompatscher: Vielleicht lernen wir Freiheit wieder anders zu schätzen. Allein der Spaziergang in der Natur hat nach Wochen in der eigenen Wohnung einen völlig neuen Wert. Und vielleicht brauchen wir etwas weniger Materialismus und etwas mehr bewusstes Erleben. Wir müssen auch nicht mehr für jede Lieferkette im letzten Winkel der Welt fertigen lassen. Ich hoffe darauf, dass wir alle begreifen, wie wichtig Solidarität in Europa ist und dass es nichts bringt, sich national abzugrenzen.

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