Kommentar zur Leitkulturdebatte Handschlag als Wert?

Meinung | Bonn · Kaum etwas von dem, was de Maizière als leitkulturell prägend auflistet, rechtfertigt die rituelle Empörung der ersten Reaktionen, meint unser Autor.

 Bundesinnenminister Thomas de Maiziere: "Wer sich seiner Leitkultur sicher ist, ist stark".

Bundesinnenminister Thomas de Maiziere: "Wer sich seiner Leitkultur sicher ist, ist stark".

Foto: Michael Kappeler

Bald geht die Diskussion um eine deutsche Leitkultur ins zwanzigste Jahr. Alle paar Jahre wallt der Begriff auf, nicht selten in Wahlkampfzeiten. Nun also Bundesinnenminister Thomas de Maizière mit zehn Thesen zu einer deutschen Leitkultur. Kaum etwas von dem, was de Maizière als leitkulturell prägend auflistet, rechtfertigt die rituelle Empörung der ersten Reaktionen.

Der Innenminister nimmt in seinen Kanon die Verwurzelung im Westen und in Europa auf, die gewaltfreie Konfliktregelung, betont den Wert von Leistung, schulischer Allgemeinbildung und Kultur im Alltag. So weit, so selbstverständlich. Der Glaube dürfe keinen Keil in die Gesellschaft treiben, schreibt de Maizière und erwähnt auch die Moscheen als Horte von Religion, die dafür zu sorgen hätten.

Wer wollte widersprechen? Dass sich manche politische Gegner am Begriff Patriotismus reiben, ist de Maizière sicher nicht unrecht. Aber ob zu einer Leitkultur gehört, sich zur Begrüßung die Hand zu geben? Die Banalität dieser Forderung ist symptomatisch für ein Grundproblem der Debatte: Entweder sind die Inhalte von so allgemeingültiger Selbstverständlichkeit, dass sie keiner besonderen Erwähnung bedürfen. Oder die Leitgedanken werden so speziell, dass sie ausgrenzen. Die Begrüßung von Freunden mit Wangenküsschen statt Handschlag wäre laut de Maizière bereits ein leitkultureller Verstoß.

Einen akzeptierten Wertekanon, nach dem wir in Deutschland leben, gibt es übrigens bereits: Unser Grundgesetz und die nachgeordnete Gesetzgebung. Man kann sich vor Gericht sogar darauf berufen.

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