Milliardenschweres Schienenprojekt Halbzeit für den Rohbau am Tiefbahnhof "Stuttgart 21"

Stuttgart · In der baden-württembergischen Landeshauptstadt nimmt das milliardenteure Schienenprojekt langsam Gestalt an. Die Grünen haben sich arrangiert, der harte Kern der Gegner demonstriert weiter.

 Bahn-Abschnittsverantwortlicher Michael Pradel.

Bahn-Abschnittsverantwortlicher Michael Pradel.

Foto: Leif Piechowski

Weiß, mit elegantem Schwung und glatt wie ein Kinderpopo, wächst die erste Stütze des neuen Stuttgarter Tiefbahnhofs aus dem Bahnsteig. Michael Pradel nickt zufrieden. „Restkelch“ nennt der Verantwortliche der Bahn für diesen zentralen Abschnitt des Projekts Stuttgart 21 das tragende Bauteil. Das ist nicht abschätzig gemeint. „Der Restkelch war die Fingerübung“, sagt Pradel, er steht sozusagen ganz am Anfang.

Spätestens im Oktober soll die erste komplette Stütze, in der Form einem Sektglas ähnlich, gegossen werden, eine dritte folgt bis zum Jahresende. Die Stützen stellen ein wesentliches Charakteristikum des umstrittenen Durchgangsbahnhofs dar. Der Düsseldorfer Stararchitekt Christoph Ingenhoven hat ihn schon 1997, mit 37 Jahren, entworfen. Bis zur Inbetriebnahme ist Ingenhoven wohl Rentner.

28 Kelchstützen sollen einmal das Dach des Tiefbahnhofs tragen, jede 800 Tonnen schwer. Bevor die Säule in die Dachfläche übergeht, umschließt sie ein verglastes Lichtauge mit 15 Metern Durchmesser. Allein das Schalen und Betonieren einer Stütze dauert 56 Tage – und fast jede ist anders.

Der quer zur Talachse liegende Tiefbahnhof ist 420 Meter lang, die Baustelle bedrängt an beiden Enden vierspurige Bundesstraßen und zwei Stadtbahntunnel, die verlegt werden. Pendler wie Einheimische müssen alle paar Monate mit einer neuen Führung der Spuren zurechtkommen. Kein Wunder, dass sich jüngst bei einer Umfrage 75 Prozent der Bürger von den Verkehrsproblemen genervt zeigten.

Für den 45-jährigen Bauingenieur Pradel heißt es jetzt, sich zu beeilen. Für den Rohbau der Halle bleiben nach dem jüngsten, im Januar von Bahn-Infrastrukturvorstand Ronald Pofalla gestreckten Zeitplan noch vier Jahre. Im Sommer 2022 muss das Dach geschlossen sein, sonst kann der Bahnhof, der ja eigentlich schon Ende 2019 eröffnet werden sollte, nicht Ende 2025 in Betrieb gehen. Begonnen wurde der Rohbau im August 2014, ganz ohne Tamtam. Jetzt ist Halbzeit.

Planänderungen nach Baustart

Gleich nach dem Baustart entschied sich die Bahn zu diversen Planänderungen. Das brachte die ausgeklügelten Abläufe durcheinander, auch in den sieben weiteren Abschnitten von Stuttgart 21.

Während gebaut wird und Teilstücke des Projekts, wie die viergleisige Stahlbrücke über den Neckar oder die beiden 9,5 Kilometer langen Tunnel von der City zur A 8 in Flughafennähe, absehbar fertig werden, sind andere noch nicht einmal im Genehmigungsverfahren. Oder dort noch nicht erneut. Für die alten, vor 17 Jahren von der Stadt Stuttgart für 459 Millionen Euro gekauften Abstellanlagen, die direkt an die Innenstadt angrenzen, gibt es noch heute keinen Ersatz. Die Sozialdemokraten im Stadtparlament nannten die Abstellgleise damals „Schienenschrott“. Der muss nun weiter durchhalten.

Die Geschichte um neue Abstellanlagen ist vertrackt. Mehrfach nahm die Bahn Anlauf, um im Vorort Untertürkheim alte Gütergleise umzuwandeln. Erst klemmte es beim Lärmschutz, dann bei verhassten Untermietern: den in Stuttgart heimischen Mauereidechsen. Weil deren Population nach einem aktuellen Gutachten bei 140 000 liegt, dürfte der Artenschutz samt millionenteurer Umsiedlungen der Kriechtiere bald fallen. Das hilft nur bedingt, denn die geplante Abstellanlage samt zweier Satelliten ist zu groß geraten, weil die Bahn im Süden einen Teil des Regionalverkehrs verloren hat.

Weitere Beispiele für das für Stuttgart 21 symptomatische Hin und Her in diesem inzwischen auf 8,2 Milliarden Euro veranschlagten Infrastrukturprojekt: Für den Tunnel zum Flughafen rieten die Projektgegner aus Kosten- und Zeitgründen dringend zur großen Bohrmaschine. Die Bahn wiegelte ab, ließ sich den Bau mittels Sprengungen genehmigen. Dann schwenkte sie um. Die Herrenknecht AG (Schwanau), Weltmarktführer bei Großbohrgeräten, musste die für Stuttgart 21 maßgefertigte Maschine bis zur Genehmigung einlagern.

Inzwischen sind immerhin 41 von 59 Tunnelkilometern gebohrt, unter dem Neckar hindurch und auch durch die bei Wasserzutritt stark quellfähigen Anhydritschichten. Wirklich kritische Erdbewegungen gab es keine, Gutachten im Auftrag der Bahn warnen aber vor einer immerwährenden Gefahr. In den nächsten Monaten steht in der City ein zwar nur 240 Meter langer, aber besonders schwieriger Abschnitt an. Um die Lücke zwischen den Röhren zum Flughafen und dem Tiefbahnhof zu schließen, müssen Wohnhäuser angehoben werden. Tunneldecke und Kellerfundamente trennen wenige Meter.

Änderungen auch am Tiefbahnhof

Auch am Tiefbahnhof, dem Herzstück des Projekts, gab es Änderungen. Fluchtwege und die Entrauchung brauchten drei Anläufe. Solche Malaisen kommentierte der S-21-Sprecher Wolfgang Dietrich, inzwischen VfB-Präsident, stets mit dem Satz „keine Auswirkung auf Kosten und Zeitplan“. Der frühere Bahn-Infrastrukturvorstand Volker Kefer, der sich im Detail mit dem Projekt befasste, beklagt „behördlichen Schwergang“ und mangelnde Kooperationsbereitschaft von Stadt und Land und dem Bonner Eisenbahn-Bundesamt, das über alle Vorschriften zum Eisenbahnbau wacht.

Kefer hat die Bahn Ende 2016 verlassen, nur einen Monat bevor Vorstandschef Rüdiger Grube hinwarf. Und die Grünen, denen Stuttgart 21 und die Reaktorkatastrophe in Fukushima in Baden-Württemberg mit an die Macht halfen, haben sich mit dem Projekt inzwischen mehr oder weniger arrangiert.

Harsche Kritik kommt ab und an noch von Verkehrsminister Winfried Hermann (66). Er nannte S 21 jüngst „die größte Fehlentscheidung der Eisenbahngeschichte“. Das Land gebe einen Haufen Geld aus, versenke einen Bahnhof und habe keinen Vorteil. Aber, so Hermann resignierend, es gebe „kein Zurück mehr“.

Das sieht auch Stuttgarts Grünen-Oberbürgermeister Fritz Kuhn (63) so. Kuhn hat seine Wiederwahl 2020 im Blick – und die rund 7500 neuen Wohnungen, die auf dem alten Gleisgelände in der Stadt nach 2025 entstehen können. 15 000 neue Einwohner kann Stuttgart damit gewinnen. Die Stadt boomt, Unterkünfte, bezahlbare gar, sind Mangelware.

Ein Damoklesschwert für alle Baupartner bleiben die ausufernden Kosten. Tief- und Flughafenbahnhof, die Strecke entlang der A 8 bis zum Anschluss an den Neubau nach Ulm sowie der Gleisring unter der Stadt sollten einmal 3,1 Milliarden Euro kosten. So war es 2009 vereinbart. Dazu kam ein Risikopuffer von 1,45 Milliarden.

82 Prozent über der früheren Summe

Inzwischen liegt die Bahn bei 8,2 Milliarden Euro, 82 Prozent über der früheren Gesamtsumme. Der Schienenkonzern trägt vorerst alle Kosten, aber er hat die Partner auf unbegrenzte Mitzahlung verklagt. Erstmals verhandelt werden könnte vor dem Verwaltungsgericht im Jahr 2019, dort liegen inzwischen mehr als 1400 Seiten der Parteien. Der Streitstoff sei „umfänglich“, heißt es.

Die Kostenkeule könnte die grün-schwarze Landesregierung mit dem beliebten Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann und auch die Stadt empfindlich treffen. Sie sollen gemäß der alten Verteilung 65 Prozent des Risikos stemmen. Das sind 2,4 Milliarden Euro. Selbst für das reiche Stuttgart, das Ende 2018 schuldenfrei sein wird, droht ein finanzielles Desaster. Die Stadt müsste den Bürgern erklären, wo für den Bahnhof gespart werden muss. In Kitas und Schulen und Schwimmbädern?

Fritz Kuhn sieht den Bund als alleinigen Bahn-Eigentümer in der Pflicht. Der Staat ist laut Grundgesetz für neue Schienenwege allein zuständig. Doch S 21 ist nicht nur bau-, sondern auch finanztechnisch eine einmalige Spezialkonstruktion. Außerhalb des Bundesverkehrswegeplans gibt es kein Infrastrukturvorhaben mit derartiger Dimension.

Schwarz-Grün in Stuttgart hofft auf Textpassagen, die sich in Vorverträgen und Notizen aus Verhandlungen des früheren Ministerpräsidenten Günther Oettinger (CDU) und des Bahnchefs Hartmut Mehdorn finden. Der habe 2007 für eine Aufstockung des Landes um 473 Millionen Euro auf eine eindeutige Mehrkostenklausel verzichtet. Oettinger, heute EU-Kommissar in Brüssel, will sich „mit Respekt vor allen Beteiligten“ zu dem Thema nicht äußern. Mehdorn (76) ist längst in Rente. Aber das Gericht könnte ihn befragen.

Juristen aus dem Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 sähen Mehdorn, dessen Nachfolger Rüdiger Grube und den neuen Bahnchef Richard Lutz gern vor Gericht. Sie werfen der Bahnspitze Untreue vor. Sie habe das Unternehmen im frühen Wissen um die fehlende Rentabilität von S 21 geschädigt und den Konzern immer tiefer ins Verderben geführt.

Tatsächlich räumte der Vorstand im März 2013 ein, dass die Bahn S 21 „mit dem heutigen Kenntnisstand“ nicht mehr beginnen, aber eben „sehr wohl fortführen“ würde. Denn ein Ausstieg komme teurer. Die Staatsanwaltschaft Berlin hat bisher jedes Verfahren zum Untreue-Vorwurf eingestellt, das jüngste erst im Juni.

Mit dem Großteil der Grünen haben sich weite Teile der früheren Gegner mit dem Bau arrangiert – wenn auch der harte Kern weiter jeden Montag auf dem Stuttgarter Schlossplatz demonstriert und gegenüber dem Bahnhof rund um die Uhr eine Mahnwache besetzt hält.

Ausbau der Zulaufstrecken gefordert

Verbände wie der Verkehrsclub Deutschland (VCD) oder der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND), verwenden sich für die in der S-21-Schlichtung mit Heiner Geißler gefundene Kombi-Lösung, dem Kompromiss aus achtgleisigem Durchgangs- und stark geschrumpftem Kopfbahnhof. Sie erwarten, dass S 21 die prognostizierte Verkehrszunahme nicht wird bewältigen können. Und sie fordern den Ausbau der Zulaufstrecken.

Als schon jetzt an der Kapazitätsgrenze gilt die Zufahrt von Norden in die Stadt. Die seit 1991 betriebene ICE-Strecke Mannheim-Stuttgart bricht im durch Porsche bekannten Vorort Zuffenhausen ab, rund sieben Kilometer vor dem Hauptbahnhof. Nicht nur die S-21-Kritiker sehen hier zwei weitere Gleise zur City als dringend nötig an.

#Doch das sind Planungen, die außerhalb des Projekts liegen. Zunächst muss der Bahnhof fertig werden. „So ein Projekt ist nie entspannt, aber terminlich betrachtet sind wir gut unterwegs“, sagt Bauleiter Michael Pradel. Für ihn bleibt die gigantische Konstruktion in der Stadtmitte „die schönste Baustelle Europas“.

Der Autor ist Redakteur bei der Stuttgarter Zeitung.

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