Günter Verheugen: "Griechenland wird kaputt gespart"

Der SPD-Europapolitiker und frühere Vizepräsident der EU-Kommission Günter Verheugen über die Entwicklung in der EU und den Arabischen Frühling.

 Die EU-Politiker fahren auf Sicht, sagt Günter Verheugen.

Die EU-Politiker fahren auf Sicht, sagt Günter Verheugen.

Foto: dpa

Denk' ich an Europa in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht?
Günter Verheugen: Ja, das muss man wirklich sagen, da kann man Heinrich Heine ruhig zitieren. Die europäische Integration ist eine großartige Erfolgsgeschichte. Aber jetzt gibt es reale Gefahren für den Zusammenhalt der Europäischen Union. Würde die Eurozone auseinanderbrechen, würde auch der Binnenmarkt schweren Schaden nehmen. Und den politischen Zusammenhalt werden wir nicht wahren, wenn die wirtschaftlichen Fundamente keinen Bestand haben.

Sie haben kürzlich gesagt, der Gipfel der Krise sei noch nicht erreicht. Wieso?
Verheugen: Weil drei große Probleme offen sind. Die Staatsschuldenkrise ist längst nicht gelöst. Neue große Volkswirtschaften, nicht nur Griechenland, werden mit ihren Problemen zu großen Verwerfungen führen. Zweitens: Die Bankenregulierung ist nicht energisch vorangetrieben worden. Und drittens wachsen die wirtschaftlichen Ungleichgewichte in der EU. Deutschland lässt andere Staaten hinter sich - hängt sie also wirtschaftlich ab. Diese Ungleichgewichte machen mir die größten Sorgen.

Warum?
Verheugen: Weil mehr und mehr Menschen in den anderen Ländern sich fragen werden, was eigentlich der Vorteil des europäischen Projekts für sie ist.

Der Bürger hat zumindest den Eindruck, dass es nicht vorangeht, trotz Krisengipfel auf Krisengipfel...
Verheugen: Ja, man fährt auf Sicht. Man kann auch sagen: Man stochert im Nebel. Wir haben ein sehr holpriges Krisenmanagement. Immer zu spät, immer zu wenig. Es gibt keinen Masterplan zur Lösung der anstehenden Probleme. Ich glaube nicht, dass man so noch lange weitermachen kann.

Stimmen Sie der Kritik zu, dass Griechenland durch die Zwangsmaßnahmen, die dem Land von außen auferlegt werden, kaputt gespart wird?
Verheugen: Ja, diese Auffassung teile ich. Das erste Griechenlandpaket war nicht nur illusionär - das konnten die Griechen nicht bewältigen -, es war auch wirklich gefährlich. Strukturreformen und Haushaltskürzungen treffen vor allem die kleinen Leute, die nicht verantwortlich sind für die Krise. Griechenland braucht ein Programm, das es langfristig für Investitionen wieder attraktiv macht. Wenn die Realwirtschaft in Griechenland nicht in Gang kommt, werden die Griechen ihre Schulden nie bedienen können.

Also ein Aufbauprogramm zusätzlich zu den Sparauflagen?
Verheugen: Ja, und das gibt es noch nicht. Da wird zwar ständig drüber geredet. Aber Konkretes fehlt. Deshalb war auch der letzte Gipfel enttäuschend. Da wurden nur Initiativen recycelt, die zum Teil schon Jahre alt sind. Da gibt es nicht eine einzige wirklich neue Idee. Vor allem: Alles sind nur Absichtserklärungen.

Können Sie sich vorstellen, dass es dem deutschen Bürger irgendwann reicht? Milliarden für den Rettungsschirm, jetzt auch noch Steuererleichterungen für Investitionen?
Verheugen: Ich kenne die Sorge. Aber die Deutschen sollten zwei Dinge beachten. Erstens: Binnenmarkt und Währungsunion haben gerade Deutschland enorme Vorteile gebracht. Kein Land in Europa muss deshalb ein größeres Interesse am Funktionieren der wirtschaftlichen Integration haben. Da muss man auch Risiken eingehen, und einige dieser Risiken werden sich auch realisieren. Der Tag wird kommen, an dem echtes Geld fließt. Bisher ist das ja nicht der Fall.

Das weiß der Bürger aber nicht...
Verheugen: Es ist aber so. Mehr noch: Die deutsche Haushaltssituation hat sich durch die Krise verbessert. Deutschland ist ein sicherer Hafen für die Anleger, und im vorigen Jahr hat Griechenland allein 200 Millionen an Zinsen in den deutschen Haushalt gezahlt.

Im Rückblick: Gab es schwere Fehler im Einigungsprozess?
Verheugen: Seien wir ehrlich: Bei der Einführung des Euro gab es genügend Leute, die gesagt haben: So funktioniert das nicht. Man kann nicht eine gemeinsame Währung haben, wenn man keine gemeinsame Politik hat. Dem ist entgegengehalten worden, dass die Währungsunion eine eigene Dynamik entwickeln und dass der Stabilitätspakt ausreichen würde. Beides war nicht der Fall. Zudem ist beim Konjunktureinbruch 2008 in allen Ländern der Geldhahn aufgedreht worden.

Hat wenigstens das Schulden- und Krisenmanagement gepasst?
Verheugen: Nein, auch da lag der entscheidende Fehler am Anfang. Es ist zu lange gezögert worden. Dafür war Berlin verantwortlich. Ein klares Signal an die Finanzmärkte von Anfang an, dass Europa ein Interventionsinstrument schafft, gegen das kein Investor anstinken kann, hat gefehlt.

Wie gefällt Ihnen das Krisenmanagementpaar "Merkozy"?
Verheugen: Die deutsch-französische Zusammenarbeit ist eine notwendige, aber allein nicht hinreichende Bedingung. Es kommt auch sehr auf die Art und Weise an. Da hat es Ungeschicklichkeiten gegeben. Es ist ganz eindeutig der Eindruck entstanden, das Entscheidungszentrum habe sich von Brüssel, von den Gemeinschaftsinstitutionen, wegverlagert nach Paris und Berlin, so als hätten die anderen nur noch einem Direktorium zu folgen. Das geht auch diskreter. Nicht immer mit Trommelwirbel und Küsschen rechts und Küsschen links. Man kann auch und gerade die kleineren Partner einbeziehen, sie auch mal um Rat fragen.

Befürworten Sie eine stärkere Vertiefung der Europapolitik?
Verheugen: Ein nächster Vertiefungsschritt ist zur Zeit völlig unrealistisch. Man kriegt ihn derzeit zu 27 sowieso nicht hin. Auch in Deutschland nicht, da es um Kernbereiche nationaler Souveränität geht. Etwa des Haushaltsrechts. Das stößt in Deutschland an die Grenzen des Grundgesetzes.

Aber es gibt doch ein europäisches Parlament?
Verheugen: Ja, aber das entspricht nicht den vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Maßstäben, etwa dem der Gleichheit. Nur ein Beispiel: Ein deutscher Abgeordneter vertritt fast eine Million Bürger, ein maltesischer gerade mal 50 000. Der nächste Vertiefungsschritt kann sich nicht auf die Übertragung von Hoheitsrechten beschränken. Mit diesem Schritt muss die EU gleichzeitig ein voll entwickeltes parlamentarisch-demokratisches System werden. Solange das nicht geschehen ist, bin ich gegen eine weitere Übertragung von Befugnissen auf die europäischen Institutionen, weil sie dort in den Händen des Apparats und nicht in den Händen der Politik landen.

Also ist die Skepsis berechtigt?
Verheugen: Vertiefung ist jahrzehntelang ohne große öffentliche Debatte, ohne wirkliche Partizipation gemacht worden. Das werden die Bürger nicht noch länger akzeptieren. Das heißt unterm Strich: Die ganze Vertiefungsdebatte führt momentan in die Irre. Wir müssen die aktuelle Krise lösen. Das ist schwer genug.

Schauen wir über den Tellerrand der EU: Wie viel Sorgen macht Ihnen das, was aus dem arabischen Frühling geworden ist?
Verheugen: Ich kann das immer noch nicht vollständig übersehen. Aber in diesen Revolutionen steckt zumindest die Chance, dauerhaft zu Demokratien zu kommen. Also sollten wir die Transformation beispielsweise Ägyptens in eine säkulare Demokratie mit allen Kräften fördern. Es wäre klug, dabei intensiv mit dem Land zusammenzuarbeiten, das für viele ein Modell darstellt: mit der Türkei.

Ist eine islamische Partei per se etwas Gefährliches?
Verheugen: Nein überhaupt nicht. Das ist etwas, was wir in Deutschland wirklich noch lernen müssen. Es gibt keinen naturgegebenen Gegensatz zwischen Islam und Demokratie oder Islam und Menschenrechten oder Islam und Rechtsstaatlichkeit. Eine islamisch-demokratische Partei dort ist für mich nichts anderes als eine christdemokratische Partei bei uns.

Wird die Gefahr des Islamismus übertrieben?
Verheugen: Der Islam ist keine Bedrohung. Aber Fundamentalismus ist immer eine Gefahr, im Islam wie im Christentum. Deshalb wäre es ja klug, die moderaten Kräfte zu stärken mit Hilfe der Türkei. Aber im Moment gibt's ja eine Funkstille zwischen der EU und Ankara. Dabei zeigt sich gerade jetzt, wie wichtig die Brückenfunktion der Türkei ist.

Hat die EU über ihrer Schuldenkrise den arabischen Frühling verschlafen?
Verheugen: Sie hat ihn nicht vorhergesehen, obschon einige EU-Staaten so taten, als hätten sie beste Beziehungen. Was übrigens kein Beispiel für eine gestaltende Rolle Europas in anderen Teilen der Welt war. Wir hatten also kein Konzept, aber wir brauchen es.

Können Sie Syrer verstehen, die sich vom Westen im Stich gelassen fühlen?
Verheugen: Ja natürlich. Aber im Fall Libyens gab es ein Mandat der UN, jetzt nicht. Das Gewaltmonopol liegt zu Recht bei den Vereinten Nationen, eine Legitimation von dort ist unverzichtbar.

Russland und China verweigern sich...
Verheugen: ...und sind damit direkt verantwortlich dafür, dass das Morden in Syrien weitergeht.

Glauben Sie wirklich, es gäbe eine militärische Intervention, wenn Russland und China mitmachten?
Verheugen: Das wäre jedenfalls nicht ausgeschlossen. Aber vielleicht passt es dem einen oder anderen gut ins Konzept, dass Russen und Chinesen die Verantwortung dafür übernehmen, dass man nichts machen muss.

Zur Person: Günter Verheugen, 67, begann seine Tätigkeit als Redenschreiber von Hans-Dietrich Genscher. 1978 wurde er FDP-Generalsekretär. Nach der Wende schloss sich Verheugen 1982 der SPD an, für die er 16 Jahre im Bundestag saß. 1998 wurde er Staatsminister im AA, 1999 bis 2010 arbeitete er als EU-Kommissar. Heute ist er Honorarprofessor an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder.

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