"2018 war ein verlorenes Jahr“ Grünen-Chef Habeck kritisiert Bundesregierung

Berlin · Robert Habeck spricht über das Beben bei CDU und SPD, die Aussichten für eine Jamaika-Koalition und die Gründe für den Erfolg seiner Partei. Er spart dabei nicht mit Kritik an der Groko.

Herr Habeck, Angela Merkel hat mit ihrem Verzicht auf eine erneute Kandidatur für den CDU-Vorsitz ihre Partei überrascht. Ist das mehr Chance oder mehr Risiko für Deutschland?

Robert Habeck: Dass Frau Merkel selbst den Weg frei macht, finde ich höchst respektabel. Nun steht die Union vor einer echten Richtungsentscheidung, die auch ein Votum über die Politik von Frau Merkel ist.

Ist die Macht, also die Ämtertrennung von CDU-Vorsitz und Kanzleramt, bis 2021 wirklich teilbar?

Habeck: Mit der Trennung von Amt und Mandat kennen wir Grüne uns ja gut aus. Es ist durchaus möglich, den Parteivorsitz und das Bundeskanzleramt in vier Händen zu halten. Aber ob es eine Chance ist, hängt stark davon ab, mit wem sich Frau Merkel die Macht bis 2021 teilt. Mit Frau Kramp-Karrenbauer ist das sicherlich einfacher, mit Friedrich Merz oder Jens Spahn könnte es schwieriger werden.

Mit wem könnten Grüne besser: Kramp-Karrenbauer oder Merz?

Habeck: Für uns ist die Frage, wie eine Politik aussehen kann, die die nötigen radikalen Veränderungen auf den Weg bringt. Wir sind konstruktive Opposition: Wir motzen nicht nur rum, sondern wir arbeiten konzeptionell.

Könnten sich die Grünen eine Jamaika-Koalition unter einem Kanzler Friedrich Merz vorstellen?

Habeck: Das ist mir zu viel „Was-wäre-wenn“ und zu viel Spekulationswelt. Man sollte außerdem Jamaika nicht so verklären. Es hätte schon 2017 alle enorm gefordert. Seitdem ist ein Jahr verloren gegangen. Es ist ungenutzt verstrichen, siehe Klimakrise, siehe Dieselkrise, siehe Europa. Ich erwarte von der amtierenden Regierung, dass sie sich jetzt personell und inhaltlich neu aufstellt, sich dem Land zuwendet und anfängt zu regieren. Das Jahr 2018 war ein verlorenes Jahr. Dieses verlorene Jahr muss aufgeholt werden.

Wie erklären Sie sich den Niedergang der Volksparteien?

Habeck: CDU, CSU und SPD sind so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie kaum noch den Blick frei haben, wie Menschen außerhalb ihrer Parteizentralen auf sie schauen – der Fall Maaßen hat das ja vor Augen geführt. Alles ist darauf ausgerichtet: Wie schaffen wir es, den Streit zwischen uns Dreien zu klären?

Dazu zählt auch der ungeklärte Diesel-Streit?

Habeck: Es gibt in der Bundesregierung eine zu große Nähe zur Automobilindustrie. Alexander Dobrindt und Andreas Scheuer reden ja so, als seien sie die Pressesprecher der Konzerne. Mit dieser Verhaltensstarre gefährdet die Bundesregierung den industriellen Kern Deutschlands. Es ist im Interesse der Branche selbst, dass die Politik einen klaren Rahmen vorgibt und sagt, wie der Umstieg auf emissionsfreie Autos laufen soll. Genug Unternehmen, viele Zulieferer etwa, warten doch darauf. Die Branche wird nur dann international mithalten und Arbeitsplätze sichern können, wenn sie weiß, wohin es geht. Dann kann sie wieder Innovationsmotor werden. Und mehr noch: Menschen spüren, wenn es unfair zugeht, wenn Verbraucher geprellt werden, aber das Management Milliardengewinne macht. Oder wenn Handwerkerinnen, Bäcker und Bürger ihre Steuer zahlen, aber Google und Facebook nicht. Dabei hat die Politik es in der Hand, für mehr Fairness zu sorgen.

Die Grünen versammeln sich in zehn Tagen zu ihrem Europa-Parteitag. Wie steht es um Europa?

Habeck: Europa ist die Antwort auf viele Probleme, die den Nationalstaat überfordern. Die einzelnen Staaten liefern sich den internationalen Internetkonzernen gerade ja völlig aus. Europa aber kann ihre Macht einhegen. Deshalb wollen wir eine europäische Digitalsteuer, die sich am Umsatz orientiert. Dann würden die Konzerne dazu beitragen, dass unsere Schulen, Kindergärten, Busse und Bahnen finanziert werden. Oder ein europäisches Kartellamt und ein schärferes Kartellrecht, damit die Übermacht von Facebook über unsere privatesten Daten gebrochen werden kann. Dann könnte man Facebook, zu dem ja auch Whats-App und Instagram gehören, aufspalten. Und wir dürfen uns nichts vormachen: Die nächste Bankenkrise kann jederzeit kommen. Dann darf es nicht erneut so sein, dass die Bürgerinnen und Bürger mit ihrem Steuergeld wieder die Banken retten müssen. Die Banken müssen selbst für ihre Kredite haften – durch eine höhere Einlagensicherung und eine deutlich höhere Eigenkapitalquote. Auch das muss Europa regeln. In der Politik ist es nie zu spät. Der Existenzmodus von Politik ist immer „Fünf vor Zwölf“, es ist nie „Fünf nach Zwölf“. Man kann immer etwas ändern, aber wir brauchen für all das mehr Entschlossenheit.

Warum wollen sich die Grünen heute nicht mehr mit dem Label Ökopartei zufriedengeben?

Habeck: Umwelt- und Klimaschutz stehen ganz oben auf unserer Agenda. Aber wir konzentrieren uns nicht nur auf das, was die anderen Parteien nicht abdecken. Wir sehen unsere Grünen-spezifischen Programmpunkte – die ökologische Krise, den Klimawandel, das Artensterben – eingebettet in die allgemeinen gesellschaftlichen Zusammenhänge…

… so, wie eine Volkspartei das auch tun würde.

Habeck: Aber mit einer anderen Logik dahinter. Wir haben den Anspruch, vorauszudenken und gleichzeitig breit in die Gesellschaft hineinzuwirken. Wir denken vom Ziel her: Wie schaffen wir es etwa, das Artensterben innerhalb der nächsten 20 Jahre zu stoppen und unsere Tiere nicht mehr zu Rohstofflieferanten zu degradieren? Wenn dafür eine andere Landwirtschaft, eine andere Industriepolitik notwendig ist, dann müssen wir die gesamte Politik nach diesem Ziel ausrichten. Und für jedes jeweilige Ziel stellen wir pragmatisch ein gesellschaftliches Bündnis her.

SPD-Chefin Nahles hat die Grünen als Hauptkonkurrenten ausgemacht. Warum treten ehemalige Verbündete wie Gegner auf?

Habeck: Das sehe ich anders. Wettbewerb unter Parteien gab es schon immer. Es hat sich aber etwas verändert in den letzten Jahrzehnten: Wir haben heute eine politische Konfliktlinie, die sich fest macht an der Frage: Bin ich liberal oder illiberal, bin ich nationalistisch oder proeuropäisch? Und für diese Frage brauchen die Parteien eine klare Haltung.

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