Interview „Feste Verwurzelung verloren“

Der Bonner Kultursoziologe Clemens Albrecht über den Vertrauensverlust in die öffentlichen Institutionen, die Rolle von Skandalen und den Einfluss des Populismus.

 Von der Politik bis zu Polizei und Kirche – das Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen ist im vergangenen Jahr gesunken.

Von der Politik bis zu Polizei und Kirche – das Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen ist im vergangenen Jahr gesunken.

Foto: picture alliance/dpa

Herr Professor Albrecht, das Vertrauen in viele gesellschaftliche In-stitutionen ist gesunken. Wie erklären Sie sich das?

Clemens Albrecht: Das lässt sich eigentlich nur mit einem allgemeinen Wechsel der politischen Grundstimmung erklären. Ein dermaßen tiefgehender Vertrauensverlust in einzelne Institutionen hängt mit einem generellen Vertrauensverlust in das politische System zusammen. Menschen nehmen einen großen Unterschied wahr zwischen ihren Erwartungen an die Politik und ihren konkreten Beobachtungen, die sie dann nicht richtig einordnen können. Man könnte vielleicht eher von einem Orientierungsverlust sprechen, der sich dann in dieser Vertrauenserosion niederschlägt.

Wie äußert sich das konkret?

Albrecht: Ich würde zwei Dinge trennen. Das eine ist der Vertrauensverlust in die öffentlichen In-stitutionen, das zweite der Autoritätsverlust von öffentlichen Institutionen. Diesen Autoritätsverlust versuchen wir in unserer Forschung mit einem neuen Begriff abzudecken, der „Selbstermächtigung“.

Was verstehen Sie darunter?

Albrecht: Früher entschieden sich Gläubige für eine Religion, traten vielleicht einer Konfession bei und aus einer anderen aus. Nun beobachten wir, dass es immer mehr Menschen gibt, die sagen: Ich vertraue keiner einzigen religiösen Institution mehr, sondern ich baue mir aus dem Angebot meine eigene Privatreligion zusammen. Ein anderes Beispiel ist Dr. Google. Es gibt immer mehr Menschen, die sich im Internet über ihre eigenen Krankheiten informieren und mit einer fertigen Diagnose nebst Therapieplan zum Arzt kommen.

Und im politischen Bereich?

Albrecht: Da sind es die „Reichsbürger“, die sich ihre eigene Verfassung zusammenfantasieren. Der Politiker verliert an Autorität, der Priester, der Arzt und der Richter. In dieses Phänomen des Autoritätsverlustes würde ich auch die Gewalt in Notaufnahmen, den Angriff auf Hilfspersonal oder Ähnliches einordnen. Aber den generellen Vertrauensverlust muss man auf einer anderen Ebene erklären.

Auf welcher Ebene denn?

Albrecht: Wir waren uns sicher, dass wir nach 1945 mit der Entwicklung der westlichen Gesellschaften einen Weg eingeschlagen haben, dem die ganze Welt früher oder später folgen würde. In der Forschung nannte man diese Überzeugung die Modernisierungstheorie. Damit ist die Entwicklung von marktwirtschaftlichen, demokratischen, individualisierten und säkularen Gesellschaften gemeint. Und man ging davon aus, dass sich alle diese Elemente gleichzeitig entwickeln würden. Doch seit Ende der 1970er Jahre beobachten wir, dass ganz andere Entwicklungen stattfinden, zunächst auf dem Gebiet der Religionen.

Welche sind das?

Albrecht: Es etablierten sich Fundamentalismen. Ajatollah Ruhollah Chomeini kehrte zum Beispiel 1979 zurück in den Iran, und plötzlich entstand eine vollkommen andere Welt. Im Laufe der Zeit wurden diese „weißen Gebiete“ auf der Modernisierungslandkarte immer größer. Das Ganze wird getoppt durch die neue Systemkonkurrenz mit China. Dort entsteht eine hochmoderne Wirtschaft, die auf einer komplett anderen gesellschaftlichen Ordnung ruht. Die Annahme, dass das Land sich auch gesellschaftlich und politisch so entwickeln würde wie die westlichen Gesellschaften, wurde widerlegt. Deshalb denke ich, dass dieser grundlegende Vertrauensverlust einfach die Unsicherheit darüber ist, ob der Weg, den die westlichen Gesellschaften in den vergangenen 50, 60 Jahren gewählt haben, auf Dauer wirklich der ist, den alle Gesellschaften dieser Welt einschlagen werden. Ob es der Weg der Weltgeschichte ist.

Was bedeutet das für die Institutionen?

Albrecht: Diese haben ihre feste Verwurzelung in einem Glauben verloren, sind dadurch instabil geworden. Und jetzt können Einzelne das politisch-gesellschaftliche System als Ganzes oder die Autorität einzelner Institutionen angreifen.

Welche Rolle spielen Skandale wie der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche?

Albrecht: Die katholische Kirche hat massiv an Vertrauen verloren. Grundsätzlich ist es aber nicht so einfach, dass Skandale immer eine solche Wirkung haben. In anderen Bereichen fügen sich Skandale eher in das Bild ein, das man ohnehin etwa von der Politik hat: Sie gehören sozusagen zur DNA. Beispiel Donald Trump: Egal, was dieser US-Präsident macht, es wirkt immer verstärkend für beide Seiten, für seine Anhänger wie Gegner. Und die Politik besteht nun mal aus Gegensätzen.

Welchen Einfluss hat der Populismus?

Albrecht: Dessen Rolle ist ambivalent. Auf der einen Seite ist der Populismus ein Ausdruck der Vertrauenskrise. Auf der anderen Seite festigt er eine zentrale Institution, nämlich die nationalstaatlichen Demokratien, indem Populisten diese nutzen möchten, um Entwicklungen der Globalisierung rückgängig zu machen.

Wie zeigt sich das?

Albrecht: In der neuen demokratischen Teilhabe von Menschen, die vorher nicht mehr wählen gegangen sind. Man sieht einen deutlichen Vertrauensgewinn in die Demokratie in Bundesländern wie Thüringen oder Sachsen aufgrund der Erfahrung, dass die AfD in den Landtag hineinwählbar ist. Mehrere Umfragen der Landeszentralen haben gezeigt, dass das Vertrauen in die Demokratie durch den Populismus bei bestimmten Schichten gestärkt worden ist.

Der Verfassungsschutz stuft die AfD als Prüffall ein, auch wenn er sie nach einer Klage der Partei nicht mehr öffentlich so bezeichnen darf. Widerspricht das dem nicht?

Albrecht: Diese Situation erscheint paradox. Die Wirklichkeit ist aber oft nicht eindeutig.

Ist der Vertrauensverlust nur in Deutschland zu spüren oder auch in anderen Ländern?

Albrecht: Wenn es etwas wirklich Beunruhigendes gibt an dieser neuen Situation, dann ist es die Tatsache, dass in den drei großen Vorbildern der bundesrepublikanischen Demokratisierung, nämlich in Frankreich, Großbritannien und den USA, diese Prozesse viel früher gegriffen haben. Deutschland ist eher ein Nachzügler, wieder einmal eine verspätete Nation. Gott sei Dank, möchte man sagen.

Wie ist denn zum Beispiel die Situation in Frankreich?

Albrecht: Man darf nicht vergessen: Die Wahl von Emmanuel Macron zum französischen Staatspräsidenten ist das Ergebnis eines delegitimierten Parteiensystems. Die Parteien hatten massiv an Zuspruch verloren. Das ist so, als ob sich die CDU zerlegt hätte und keine zehn Prozent mehr schafft, und die SPD nach einer langen Phase der Kanzlerschaft auf ein Drittel ihrer Stimmen abgesunken wäre. Jenseits dieser Parteien hat sich eine liberale, charismatische Person aus dem Nichts heraus engagiert und über die sozialen Medien eine politische Bewegung gestartet. Aber es gibt keine Parteibindung mehr. Eine Bewegung ist schnell da, aber auch schnell wieder weg.

Und in Großbritannien und den USA?

Albrecht: In Großbritannien haben wir mit dem Brexit etwas Ähnliches erlebt, nur dass durch das Wahlsystem die Parteien scheinbar stabil geblieben, aber intern in zwei Lager zerfallen sind. In den USA hat sich seit vielen Jahren schon der politische Grabenkampf zwischen Demokraten und Repu-blikanern immer mehr verschärft. Mit Trump ist ein charismatischer, sehr amerikanischer Führertypus ins Amt gewählt worden.

Wie lässt sich das Vertrauen zurückgewinnen?

Albrecht: Das ist ganz schwer zu sagen und auch wieder ganz einfach. Aus einer offenen Wahl gehen bestimmte Mehrheitsverhältnisse hervor, und dann sollte man politisch integrierend agieren. Also dasselbe machen wie mit den Grünen seit den 1980er Jahren, die ja als Anti-System-Partei gestartet sind. Es heißt zum Beispiel, dass die AfD nicht in der Bundestags-Fußballmannschaft mitspielen darf. Wenn das stimmt, halte ich das für verheerend. Soziale Ausgrenzung führt eher zur Aufwertung der Gegner, zumal in durchmoralisierten Gesellschaften.

Sie denken, dass sich die AfD verändern wird, wenn sie anders eingebunden wird?

Albrecht: Das ist eine Hoffnung. Bisher ist es eigentlich mit allen Parteien in der Geschichte der Bundesrepublik gelungen, sie über die Beteiligung am politischen Prozess so weit zu zähmen, dass sie ins politische System integrierbar waren. Und deren Wähler finden dadurch ihre Positionen in der Politik zumindest ansatzweise wieder und erhalten sich das Vertrauen ins politische System. Mein Rat ist schlicht: Lasst die Demokratie arbeiten. So können wir wieder Vertrauen in Institutionen aufbauen.

Lässt sich so auch dem Autoritätsverlust entgegenwirken?

Albrecht: Nicht automatisch, denn das sind wie gesagt zwei getrennte Prozesse. Was ohne Zweifel passieren muss, ist, dass zumindest die Autoritäten, die Verbindlichkeit über das Recht herstellen, also in erster Linie Polizei und Justiz, dies auch durchsetzen müssen. Wenn man sich anschaut, wie viele Verfahren eingestellt werden, weil die Kapazitäten der Justiz nicht ausreichen, braucht man sich auf Dauer nicht wundern, wenn die Autorität staatlicher Institutionen sinkt.

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