EU-Gipfel Europa vertagt Entscheidungen zum Flüchtlingsdrama

Brüssel · Enrico Letta brauchte nicht mehr zu tun, als den übrigen Staats- und Regierungschefs von der vergangenen Nacht zu erzählen.

Italiens Ministerpräsident sollte dem Europäischen Gipfel eine Einführung zum Thema Flüchtlinge geben - also berichtete er von über 700 Menschen, die von Afrika aus Richtung Europa gestartet waren und zwischen Donnerstagabend und Freitagmorgen aus dem Mittelmeer gerettet wurden. "Die Lage ist dramatisch", sagte der Premier. "Wir brauchen die Hilfe der EU."

Kommissionspräsident José Manuel Barroso ergänzte: "Das Ausmaß des menschlichen Dramas im Mittelmeer bedeutet, dass wir jetzt handeln müssen." Doch über Unverbindlichkeiten geht das, was die 28 Chefs der Mitgliedstaaten gestern beschlossen, nicht hinaus: "Geleitet vom Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten" sollen "konsequente Maßnahmen" ergriffen werden, um zu verhindern, dass Menschen auf See ihr Leben lassen und dass sich solche "menschlichen Tragödien" wie vor Lampedusa nicht wiederholen.

Kein Wort von einem anderen Verteilungsschlüssel, den der Präsident des Europäischen Parlamentes, Martin Schulz, vorher gefordert hatte. "Wir werden über kurzfristige Maßnahmen wie die Ausdehnung des Mandates für die EU-Grenzschützer im Dezember reden", erklärte Kanzlerin Angela Merkel. "Außerdem wird die Problematik im nächsten Jahr bei einem Spitzentreffen zwischen der EU und Afrika eine wichtige Rolle spielen." Eine neue Asylpolitik werde es deshalb aber nicht geben. "Das muss man nicht jedes Mal sofort wieder von vorne beginnen." Europa bleibt dabei: Man ist bestürzt über die Toten, will auch alles tun, damit nicht noch einmal Menschen ertrinken. "Denn darum geht es", betonte gestern ein hoher EU-Diplomat gegenüber unserer Zeitung. "Mit einem anderen Asylrecht hilft man niemandem, der im Mittelmeer zu ertrinken droht."

Auch an anderer Stelle konnte dieser EU-Gipfel keine Fortschritte erzielen. Abgesehen von der generellen Einigung auf eine gemeinsame europäische Bankenaufsicht laufen die Vorarbeiten für europäische Standards zur Abwicklung maroder Institute weiter. Bis zum Jahresende sollen die offenen Fragen geklärt werden - darunter auch diese: Wer zahlt eigentlich die Reparaturkosten, wenn beim Stresstest im nächsten Jahr eines der 124 großen Institute als unterfinanziert auffallen sollte? Merkel: "Die Finanzminister sind bei ihren Gesprächen auf einem guten Weg."

Der weitere Ausbau der Wirtschafts- und Währungsunion komme ebenfalls voran, betonte die Bundeskanzlerin. Im Grundsatz seien nun alle Euro-Mitgliedstaaten und einige weitere Freiwillige einig, dass es künftig "verpflichtende Vereinbarungen" (Merkel) zwischen den Regierungen und der EU-Kommission geben soll, mit denen Brüssel mehr Kompetenz für die Überwachung der Haushalte bekommt. Das Ziel: Der Währungskommissar soll die Etatentwürfe der Mitgliedstaaten auf ihre Schuldentragfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit hin abklopfen.

Befürchtungen, die Kommission dürfe am Ende sogar in die Lohnpolitik der Euro-Familienmitglieder eingreifen, werden immer lauter. Widersprochen wurde auch auf diesem Gipfel nicht. Es sei "zu früh", darüber zu spekulieren, meinten Diplomaten. Auch für diese Frage gelte: Fortsetzung im Dezember.

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