Interview "Europa muss Wohlstand für alle möglich machen"

Bonn · Die stellvertretende Linken-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht über die Gründe für den Rechtsruck in Europa.

Rechte Parteien haben bei den Europawahlen stark dazugewonnen. Geht die Linke nun auf die Sozialdemokraten zu, um ein Gegengewicht zu bilden?
Wagenknecht: Die Frage ist, für welche Politik die Sozialdemokraten im Europaparlament stehen. Die SPD fährt eine doppelbödige Strategie. Ein Beispiel ist das geplante transatlantische Freihandelsabkommen TTIP. Wirtschaftsminister Gabriel gibt prinzipiell grünes Licht dafür, präsentiert sich aber gleichzeitig öffentlich als Kritiker des umstrittenen Investorenschutzes, mit dem Konzerne in Zukunft gegen Verbraucherschutz oder soziale Standards klagen könnten. Im Europaparlament ist dem Investorenschutz und damit den Schiedsgerichten aber kurz vor Ostern schon zugestimmt worden - mit den Stimmen der Sozialdemokraten. Das erleben wir immer wieder: In Berlin geben sie sich bürgerfreundlich, und in Europa sind sie lobbyhörig.

Also ist der Rechtsruck kein Anlass, die Fronten aufzuweichen?
Wagenknecht: Es geht darum, die Sorgen der Menschen in Europa ernst zu nehmen und linke Alternativen aufzuzeigen. Wer Europa vor allem an den Interessen von Banken und Großunternehmen ausrichtet, muss sich nicht wundern, dass sich die Leute von Europa abwenden.

Auch Teile der Linken sind erklärt europafeindlich...
Wagenknecht: Das ist ein unsinniger Vorwurf. Gerade wenn es einem um die Ideale geht, um das, was einmal der Gründungskonsens der EU war - Frieden, Menschenrechte, Sozialstaat...

...nicht zu vergessen den freien Handel...
Wagenknecht: ...dann muss man diese EU kritisieren und verändern wollen, denn sie hat mit diesen Idealen nur noch relativ wenig zu tun.

Was meinen Sie damit?
Wagenknecht: Die EU-Verträge sind so gefasst, dass sie vor allem Konzernen und großen Banken nützen. Arbeitnehmer und Kleinunternehmen haben mit Recht das Gefühl, dass sie in Brüssel keine Lobby haben. Die Krisenländer wurden von der Troika ins Elend getrieben. Das muss sich ändern.

Und warum hat aus Ihrer Sicht die AfD in Deutschland so ein gute Ergebnis erreicht?
Wagenknecht: Auch in Deutschland entwickeln sich die Reallöhne seit 15 Jahre schlecht. Wir haben eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft. Für Hunderte Milliarden wurden die Banken gerettet. Da fragen sich die Bürger natürlich: Warum ist in diesem Europa dafür Geld da, aber nicht für Straßenreparaturen, gute Bildung und ordentliche Renten?

Kann man Europa alleine auf die Frage von Geld- und Wohlstandsverteilung reduzieren?
Wagenknecht: Die Politik hat zugelassen, dass die Errungenschaften Europas diskreditiert wurden. Beispiel Arbeitnehmer-Freizügigkeit: Eigentlich eine wunderbare Sache. Aber die Politik hat zugelassen, dass diese Freizügigkeit von Unternehmen für brutales Lohndumping ausgenutzt werden kann - wie in der Fleischindustrie. Das erleben die Menschen als Angriff auf ihr Lohnniveau.

Was ist mit Demokratie, Meinungsfreiheit, Reisefreiheit?
Wagenknecht: Wer kein Geld hat, dem nutzt der Wegfall von Grenzkontrollen nur bedingt, denn er kann trotzdem nicht verreisen. Selbst in Deutschland kann sich ein Viertel aller Familien keine Urlaubsreise leisten.

Was im Umkehrschluss bedeutet, dass drei Viertel im Urlaub wegfahren.
Wagenknecht: Sie können doch nicht bestreiten, dass in den letzten Jahren selbst ein großer Teil der Mittelschicht in Deutschland Wohlstand verloren hat. Und die EU fördert aktuell auch nicht die Demokratie: Vielmehr werden nationale Parlamente und Kommunen immer mehr entmündigt.

Würden Sie sagen, dass der EU-Beitritt den Staaten, die in den vergangenen Jahren dazugekommen sind, geschadet hat?
Wagenknecht: Die Gesellschaften haben sich sehr gespalten. Es gibt viele, vor allem Ältere, denen es viel schlechter geht als vorher, die ihren Job verloren oder Hungerrenten haben. Aber auch viele junge, gut ausgebildete Menschen in den Beitrittsstaaten sind in die reichen EU-Staaten migriert, weil sie zuhause keine Jobs mehr finden. Dies gilt erst recht aktuell für die Krisenstaaten.

Wie ist denn Ihre persönliche Meinung zur EU?
Wagenknecht: Ich wünsche mir ein Europa, in dem die europäische Idee lebt: Völkerverständigung, das Niederreißen von Grenzen. Aber die heutige EU fördert, indem sie Löhne und Renten senkt und den Markt über alles stellt, geradezu ein Revival des Nationalismus. Europa muss Regeln schaffen, die das möglich machen, was auch einmal deutscher Anspruch war: Wohlstand für alle.

Und wie stehen Sie zur Gemeinschaftswährung?
Wagenknecht: Naja, aktuell spaltet der Euro Europa. Eine gemeinsame Währung kann nur funktionieren, wenn Dumpingstrategien einzelner Länder verhindert werden. Wenn Deutschland über 15 Jahre die Löhne senkt, haben andere Ländern nur eine Chance, wenn sie das Gleiche tun. Aber wo soll dann noch Nachfrage herkommen?

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