Porträt des türkischen Präsidenten Erdogans Versprechungen

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan will seinen Staat ganz auf sich ausrichten. Er ist sogar bereit, dafür das Tischtuch zum Westen zu zerschneiden.

 Setzt alle Mittel ein: Präsident Recep Tayyip Erdogan. (Archivbild)

Setzt alle Mittel ein: Präsident Recep Tayyip Erdogan. (Archivbild)

Foto: AP

Der entscheidende Moment eines Erdogan-Auftritts kommt meistens dann, wenn der Präsident das Pult und den vorbereiteten Redetext verlässt und mit einem drahtlosen Mikrofon über die Bühne schlendert. In diesen Augenblicken spielt Erdogan seine Stärke als Redner aus, dann lässt er oft die deftigsten Sprüche vom Stapel, mit denen er die Menge begeistert.

Vor dem Verfassungsreferendum ist der 63-jährige derzeit wieder auf den Marktplätzen des Landes unterwegs und hält mindestens eine Ansprache pro Tag. Bei der Volksabstimmung am 16. April fällt die Entscheidung darüber, ob Erdogan sein Lebenswerk mit einem Präsidialsystem krönen und die Türkei auf Jahrzehnte hinaus verändern kann.

„Was war damals, und was ist heute“, lautet eine von Erdogans Formeln bei seinen Reden: Er rechnet den Türken vor, wie die Wirtschaft unter seiner Regierung in den letzten anderthalb Jahrzehnten erstarkt ist, wie das Fernstraßennetz ausgebaut wurde, wie die Menschen zu nie gekanntem Wohlstand gekommen sind. Unter dem Präsidialsystem, so verspricht er, wird die Türkei erst recht goldenen Zeiten entgegengehen.

Umstellung auf das Präsidialsystem würde mehr Macht garantieren

Wird sein Präsidialplan abgesegnet, so wird Erdogan voraussichtlich bis zum Jahr 2029 mit weitreichenden Vollmachten regieren können. Mit der Reform würde das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft; der Präsident würde die Aufgaben des Regierungschefs übernehmen und die Minister ernennen und entlassen; die parlamentarische Kontrolle der Regierung würde beschnitten. Erdogan hätte im neuen System zudem das Recht zur Ernennung der meisten hohen Richter.

Natürlich geht es Erdogan um den Machtzuwachs, aber nicht nur: Als Präsident mit weitreichenden Befugnissen würde er gewissermaßen zu einem neuen Atatürk, zum Gründer einer neuen Republik. Mit der Umstellung auf ein Präsidialsystem will Erdogan die politische Wende, die er nach dem Machtantritt seiner islamisch-konservativen AKP im Jahr 2002 gegen die Säkularisten durchgesetzt hat, unumkehrbar machen. Er will die Vorherrschaft der konservativen Anatolier – die strukturelle Mehrheit der Wählerschaft – auf Dauer festschreiben.

Keine Rücksicht auf Europa

Wenn sich Erdogan mit seinem Plan durchsetzt, ist es nach den heute bestehenden Kräfteverhältnissen fast ausgeschlossen, dass die Türkei jemals einen linken oder säkularistischen Präsidenten erhält. Um dieses Ziel zu erreichen, setzt Erdogan alles aufs Spiel, auch die Beziehungen seines Landes zu Europa. Mit dem Versprechen, bei einer Zustimmung der Wähler zum Präsidialsystem auch die Todesstrafe wieder einzuführen, ködert er nationalistische Türken – obwohl ein solcher Schritt das Ende der türkischen EU-Bewerbung wäre.

Erdogans Nazi-Vergleiche der vergangenen Tage und seine Schimpftiraden über den Westen bestätigen zudem die Selbstsicht der Türkei als „sauberer“ Staat und als Land, dessen Aufstieg zur Regionalmacht vom Westen mit Sabotageaktionen verhindert werden soll. Erdogan setzt diese Weltsicht vieler seiner Wähler bewusst als politisches Instrument ein, doch er wurde in seinem Werdegang auch selbst davon geprägt. Als Oberbürgermeister von Istanbul musste er Ende der 1990er Jahre eine Haftstrafe absitzen, weil er bei einer Rede ein Gedicht verlesen hatte, das ihm als religiöse Volksverhetzung ausgelegt wurde. Damals habe niemand im Westen eine Hand gerührt, klagt der Staatschef noch heute – dabei hatte die EU im Jahr 1998 sehr wohl Kritik am Gerichtsurteil gegen Erdogan geäußert.

Noch tiefer als die vermeintliche Missachtung durch den Westen sitzt bei frommen Türken wie Erdogan die Erinnerung an die lange Zeit der undemokratischen Dominanz der westlich orientierten Eliten im eigenen Land. Erdogans Töchter durften in der Türkei nicht studieren, weil sie das islamische Kopftuch trugen. Hardliner in der Armee drohten vor zehn Jahren offen mit einem Putsch gegen Erdogan, während die säkularistische Justiz unter fadenscheidigen Gründen ein Verbotsverfahren gegen seine Partei AKP einleitete. Inzwischen regiert die AKP seit fast 15 Jahren, Justiz und Medien sind größtenteils auf Regierungslinie. Trotzdem setzt Erdogan weiter auf das Opfer-Thema, insbesondere nach dem Putschversuch des vergangenen Jahres. Weil er überall Staatsfeinde vermutet, hat der Präsident in den vergangenen Monaten mehr als 100 000 Menschen aus dem Staatsdienst entlassen und mehrere Zehntausend einsperren lassen.

Trotz seiner Rhetorik, seiner Appelle an das Misstrauen gegen den Westen, trotz des Drucks auf Andersdenkende und folgsamen Medien kann Erdogan nicht sicher sein, dass ihm die Türken am 16. April folgen werden. AKP-interne Umfragen sollen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Befürwortern und Gegnern des Präsidialsystems ermittelt haben. Kein Wunder also, dass Erdogan angesichts der Bedeutung der Volksabstimmung für sein politisches Lebenswerk alles in die Schlacht wirft – und keine Rücksicht auf Europa nimmt.

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