Referendum Erdogan will Türkei komplett verändern

Istanbul · Die Volksabstimmung über das Präsidialsystem am Sonntag ist eine tiefgreifende Weichenstellung. Der Kurs bleibt unberechenbar.

Das Wort „Schicksalswahl“ mag überstrapaziert sein – doch bei der Volksabstimmung in der Türkei an diesem Sonntag ist der Begriff angemessen. In dem Referendum entscheiden rund 58 Millionen Wähler in der Türkei und im Ausland über den weitreichendsten Umbau des Staates seit Jahrzehnten. Staatschef Recep Tayyip Erdogan wirbt für die Einführung eines Präsidialsystems, das ihm selbst auf Jahre hinaus große Machtbefugnisse einräumen würde. Seine Gegner warnen vor einem Ein-Mann-System und dem Ende der Republik Atatürks.

An der Wahlurne stimmen die Türken mit der Entscheidung über die Verfassungsreform auch über Erdogans politische Zukunft ab. Erhält der 63-Jährige die Zustimmung von mehr als 50 Prozent der Wähler für seinen Plan, wird er bis zum Jahr 2029 an der Spitze des Staates bleiben und als zentrale Figur die Geschicke des Landes lenken können. Das geplante System gibt ihm als Präsident weitreichende Vollmachten, während die Rechte des Parlaments und anderer Institutionen geschwächt werden; das Amt des Ministerpräsidenten wird ganz abgeschafft.

Kritiker sprechen deshalb von einer Verletzung der Gewaltenteilung und einem Marsch in die Diktatur. Erdogan und seine Anhänger betonen dagegen, die Systemumstellung werde das Regieren in der Türkei effizienter machen und die Demokratie stärken.

Obwohl Erdogan und die AKP die meisten Medien auf ihrer Seite haben und der Wahlkampf der Opposition behindert wurde, herrscht bei den Wählern wenige Tage vor der Wahl eine so starke Skepsis, dass Voraussagen über den Ausgang des Referendums schwierig sind. Ein Großteil der Meinungsumfragen geht von einem knappen Sieg für Erdogan aus, doch häufig bewegt sich der Abstand zwischen dem Ja und dem Nein in den Befragungen innerhalb der Fehlermargen.

Insbesondere in den Großstädten gibt es Widerstand gegen Erdogans Plan. Die Oppositionspartei CHP rechnet in der 15-Millionen-Metropole Istanbul mit einer Mehrheit von 53 Prozent gegen das Präsidialsystem. Da jeder fünfte türkische Wähler in Istanbul und Umgebung lebt, ist das Ergebnis in der Stadt von großer Bedeutung.

Die Erdogan-kritische nationalistische Politikerin Meral Aksener erwartet eine Ablehnung des Präsidentenplans mit landesweit etwa 54 Prozent. Selbst in der AKP gebe es viele Menschen, denen der vorgeschlagene Machtzuwachs für Erdogan unheimlich sei, sagte sie dem Sender Fox TV. Opposition und Menschenrechtler befürchten, dass sich der Druck auf Andersdenkende unter einem Präsidialsystem weiter verschärfen wird. Seit dem Putschversuch im vergangenen Jahr sind mehr als hunderttausend Menschen aus dem Staatsdienst entlassen und Zehntausende inhaftiert worden. Mehr als hundert Journalisten sitzen ebenfalls hinter Gittern.

Sollten die Türken das Vorhaben Erdogans ablehnen, wäre der Präsident politisch schwer angeschlagen. Für diesen Fall wird schon jetzt über vorgezogene Parlamentswahlen spekuliert. Möglicherweise wird sich Erdogan bei einer Niederlage einem Aufstand in der AKP entgegensehen; laut Medienberichten denken einige AKP-Politiker an die Gründung einer neuen Partei, weil sie Erdogan als übermächtig empfinden.

Der amerikanische Türkei-Experte Henry Barkey von der Denkfabrik Woodrow Wilson Center in Washington ist überzeugt, dass ein Übergang zum Präsidialsystem weitere Spannungen im Land lediglich verzögern, aber nicht verhindern würde. In der „Washington Post“ schrieb Barkey, über kurz oder lang sei ein „kataklystischer Zusammenbruch“ wie in Venezuela möglich. Mit oder ohne Präsidialsystem dürften die Beziehungen zwischen der Türkei und dem Westen gespannt bleiben. Das Verhältnis zur EU ist nach den Wahlkampfverboten für türkische Regierungspolitiker in Europa und Erdogans Nazi-Vorwürfen zerrüttet; auch mit dem westlichen Hauptverbündeten USA liegt der türkische Präsident wegen der Syrien-Politik im Streit.

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