Heiligsprechung von Mutter Teresa Engel der Armen

Kolkata · Mutter Teresa versuchte als Erste und zunächst Einzige, mit ihrem Sterbeheim die Leiden Todgeweihter aus der Gosse zu lindern. An diesem Sonntag soll sie heilig gesprochen werden.

 Die katholische Ordensschwester und Friedensnobelpreisträgerin Mutter Teresa.

Die katholische Ordensschwester und Friedensnobelpreisträgerin Mutter Teresa.

Foto: picture alliance / dpa

Vor der Haustür mit der Nummer 54A an der A.J.C. Bose Road war es bereits dunkel. Die schlichten Holzmöbel drückten nach ein paar Minuten unbequem im Rücken, als Mutter Teresa damals an einem Abend Anfang des Jahres 1996 endlich eine halbe Stunde Zeit fand, um mit ein paar deutschen Reportern zu sprechen. Auf den ersten Blick wirkte der „Engel der Gosse“, wie sie bewundernd genannt wurde, etwas verhutzelt. Aber Mutter Teresa entpuppte sich – eine gutes Jahr vor ihrem Tod – schnell als sprühendes Energiebündel samt unerschütterlichem Tatendrang und erzkonservativen Ansichten. „Wir sind hier, um zu helfen. Uns interessiert nicht, warum die Leute arm sind“, beschrieb die Gründerin des Ordens ihre Devise und wackelte mit ihrem leicht verkrüppelten dicken Zeh in den Riemensandalen.

Kolkata, laut Statistiken die drittreichste Stadt Indiens nach der Wirtschaftsmetropole Mumbai und der Hauptstadt Delhi, trug während der Begegnung noch den Namen Kalkutta. Der Name der Metropole im Osten des Landes stand für das schier unvorstellbare Elend, das einst als Synonym für Südasien galt. Verwaschene und vernachlässigte Fassaden, baufällige Bauten, Tausende von Menschen, die nachts auf aus der Kolonialzeit stammenden Fußgängerwegen übernachteten, passten nahtlos in das Klischee auswegloser Not.

1943 hatte nach britischer Herrschaft eine Hungersnot Millionen von Menschen in Kalkutta weggerafft. Nach der Gründung Indiens gab es bei der blutigen Trennung von Pakistan und Indien Hunderttausende von Toten. Zwei bis drei Millionen Flüchtlinge strömten aus Ost-Pakistan, dem heutigen Bangladesch, nach Kalkutta.

„Mutter Teresa wäre ohne Kalkutta nicht möglich gewesen“, sagte in diesen Tagen der 39-jährige Brite Gautam Lewis. Den jungen Mann, der heute unter anderem einen Pilotenschein besitzt und gerade in Kolkata einen Film über das Leben und Wirken von Mutter Teresa vorstellt, würde es ohne die gebürtige Albanerin möglicherweise auch nicht geben. Als Säugling erkrankte Lewis an Polio und landete auf glücklichen Umwegen in einem Kinderheim in Kalkutta. Im Alter von drei Jahren vermittelten ihn die „Missionarinnen der Nächstenliebe“ im Rahmen eines umstrittenen Adoptivprogramms an Eltern in Großbritannien. „Ich will mit meinem Film Mutter Teresa wieder jungen Leuten nahebringen“, begründet Lewis seinen Film über die Gründerin der „Missionarinnen der Barmherzigkeit“.

Damals bei dem Treffen an einem kühlen Januarabend im Jahr 1996 in dem Raum des heutigen Mutterhaus des Ordens, in dem Mutter Teresa heute in einem steinernen Sarkophag liegt, war die aus Skopje in Mazedonien stammende Nonne dank des Friedensnobelpreises im Jahr 1979 längst so berühmt, dass selbst Kubas kommunistische Ikone der katholischen Ikone in der weiß-blauen Tracht der „Missionarinnen der Barmherzigkeit“ die Tore öffnete. Doch kein einziger der deutschen Journalisten zog damals während der Begegnung die Möglichkeit in Betracht, dass der Vatikan dank der Bemühungen von Papst Johannes Paul II. die lebhafte Nonne mit dem zerfurchten Gesicht, und den von Arbeit gezeichneten Händen im Rekordtempo ganze 20 Jahre später am 4. September auf der Grundlage von zwei voneinander unabhängigen vorgeblichen Wundern heiligsprechen würde.

In Rom hatten die Kardinäle 1996 noch nicht beschlossen, dass die Zukunft der katholischen Kirche in Asien liegen würde. In Indien, fünf Jahrzehnte lang die Wahlheimat von Mutter Teresa, überwog Ehrfurcht vor dem Einsatz der aus Skopje stammenden Frau die religiöse Hetze, mit der heutzutage führende Hindunationalisten des Landes bis hin zu Mohan Bhagwat, dem einflussreichen Chef der radikalen Hindu-Organisation RSS, die Nachfolgerinnen von Mutter Teresa überschütten. Der „Engel der Armen“, wie die Nonne auch genannt wurde, habe statt Wohltätigkeit nur ein Ziel im Sinn gehabt: Die Inder zum Christentum zu überzeugen.

Mutter Teresa kannte solche Kritik an ihrer Arbeit. Schließlich veröffentlichte im Jahr 1995 der Au-thor Christopher Hitchens bereits sein Buch mit dem polemischen Titel „Die Missionarsposition: Mutter Teresa in Theorie und Praxis“. Er warf den „Missionarinnen der Nächstenliebe“ vor, Armen und Kranken zu helfen, um die Verbreitung ihres fundamentalistischen katholischen Glaubens zu fördern. Der „Engel der Gosse“ bestärkte solche Vorhaltungen mit seiner Bereitwilligkeit, vor einer Volksabstimmung in Irland für die Gegner eines Scheidungsverbots die Trommeln zu rühren.

Mutter Teresas grundsätzliche Ablehnung von künstlicher Familienplanung und Abtreibung als – so ihre Worte – „Mord im Mutterleib“ schien schon Mitte der 90er Jahre einerseits wenig zeitgemäß. Andererseits wirken ihre Worte angesichts der Abtreibung von Millionen von weiblichen Föten in Indien auf der Basis von Ultra-Schall-Geschlechtserkennung heute wie ein düsteres Orakel über die Gegenwart.

Die Theologie des Leidens, wie manche Kritiker die Weigerung der „Missionarinnen der Nächstenliebe“ nannten, Ursachen von Armut und Elend zu bekämpfen, entstand Ende der 50er Jahre, als nach den Schrecken des Weltkriegs Hungerepidemien, Cholera und Tuberkulose die Menschheit bedrohten. Rund um das Khaligat im Zentrum von Kolkata, über dem auch in der Gegenwart der Gestank geronnenen Bluts von Tieropfern steht, starben damals in der Gosse Dutzende Menschen, um die sich niemand kümmerte.

Mutter Teresa versuchte nicht nur als Erste, sondern zunächst auch als Einzige mit ihrem Sterbeheim während der letzten Tage die Leiden todgeweihter Menschen zu lindern, die sie sprichwörtlich aus der Gosse holte. Die spätere Kritik, die Nonnen hätten mehr für die Kranken tun können, mag richtig sein. Ob Besseres tatsächlich unter damaligen Bedingungen möglich war, ist heute schwer zu beurteilen.

„Es war die Zeit von Albert Schweitzer“, beschrieb vor ein paar Jahren die aus München stammende, damals 71-jährige Ärztin und Nonne Schwester Andrea gegenüber dieser Zeitung ihr Motiv, Anfang der 50er Jahre ihre deutsche Heimat hinter sich zu lassen, „in Frankreich gab es die Arbeiterpriester.“ Eine monatelange Irrfahrt über die Weltmeere brachte die Frau schließlich zu ihrem Ziel Kalkutta. Schwester Andrea arbeitete als Leiterin eines Kinderheims, als sie gegenüber dieser Zeitung ihr schlichtes Ziel enthüllte: „Ich wollte Gutes tun.“

Die Einstellung der Ärztin klang damals so überholt wie der feste Wille der „Missionarinnen der Nächstenliebe“, nach dem Tod von Mutter Teresa im Jahr 1997 so weiter zu machen, wie die Ordensgründerin es vorgelebt hatte. „Es gibt keinen Grund, unsere Linie zu ändern“, hieß es damals im Mutterhaus des Ordens. Wenige Tage vor der Heiligsprechung von Mutter Teresa am kommenden Sonntag scheint es, als ob die Nonnen in den blau-weißen Kutten mit ihrem Beharren, lediglich zu helfen und keine Fragen nach den Ursachen zu stellen, weitaus zeitloser sind als ihre Kritiker. Jedenfalls gehören die Zeiten, in denen Hilfsorganisationen, Staaten, Vereinte Nationen oder Kirchen versuchten, die Wurzeln von Armut, Konflikten und Elend zu beseitigen, Sonntag für einen Tag zur der Vergangenheit.

Wirtschaftshilfe dient heutzutage vor allem zur Unterstützung der eigenen Ökonomie. Für Hilfsorganisation ist es zunehmend schwieriger, Spenden für langatmige Projekte zu sammeln, die keine kurzfristigen Erfolge vorweisen können. Humanitäre Arbeit, die nach Katastrophen das Elend bekämpft, kennt solche Probleme weitaus weniger. So gesehen kommt die Heiligsprechung von Mutter Teresa zu einem denkbar günstigen Zeitpunkt. Der Vatikan verherrlicht eine Frau, die helfen wollte, ohne nach Ursachen zu bewerten. Zumindest in Kolkata wirkt das Konzept: Die „Missionarinnen der Nächstenliebe“, heute in 137 Ländern mit rund 4000 Nonnen vertreten, müssen inzwischen ein halbes Dutzend Unterkünfte anbieten, um Freiwillige aus aller Welt zu beherbergen, die ein paar Wochen im Sterbeheim arbeiten wollen.

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