Fünf Jahre nach der arabischen Revolution Düstere Bilanz: Tunesien muss um die Früchte seiner Rebellion

Tunis/Madrid · Fahnen wurden im Zentrum der tunesischen Hauptstadt Tunis geschwungen, Tausende Regierungsanhänger sangen die Nationalhymne. "Wir können stolz sein", jubelte Ministerpräsident Habib Essid dieser Tage. Doch richtige Feierstimmung will in Tunesien, dem Geburtsland des arabischen Frühlings, fünf Jahre nach der Rebellion und der Vertreibung von Diktator Zine el-Abidine Ben Ali nicht aufkommen.

Denn von der revolutionären Euphorie ist in dem Staat, der als islamisches Musterland gelobt wurde, nicht mehr viel übrig: Terrorangst, Armut, Verfolgung und Repression nehmen zu. Frauen beklagen sexuelle Diskriminierung und eine wachsende Islamisierung der Gesellschaft. Die Menschenrechtler von Amnesty International warnen angesichts eines immer autoritäreren Sicherheitsapparates vor einer "zunehmenden Unterdrückung" und einem Rückfall in die alten "dunklen Zeiten".

Auch die Bilanz der Bürgerrechtlerin Lina Ben Mhenni ist ernüchternd: "Tunesien verwandelt sich wieder in einen Polizeistaat. Die wirtschaftliche Lage ist schlechter als vorher, soziale Konflikte wachsen. Die Ziele der Revolution wurden nicht erreicht." Es sei kein Wunder, dass junge Tunesier versuchten, nach Europa zu flüchten. Oder in die Fänge der Terrorbewegung Islamischer Staat getrieben würden. "Viele junge Leute sind enttäuscht."

Der Terror droht die Früchte der Revolution zu zerstören: Nach der Serie schwerer Anschläge gilt in Tunesien der Ausnahmezustand. Zudem wurden Anti-Terrorgesetze verabschiedet, welche die Bürgerrechte und die Pressefreiheit beschneiden. Polizei und Sicherheitskräfte können nahezu unbegrenzt und unkontrolliert vorgehen. Tausende mutmaßliche Verdächtige, meist junge Leute, wurden in den letzten Monaten ins Gefängnis geworfen.

Im November hatte ein Terrorist mitten in Tunis einen Bus der Präsidentengarde in die Luft gejagt und zwölf Leibwächter von Staatschef Beji Caid Essebsi getötet. Im März und im Juni 2015 ermordeten Terrorkommandos am Bardo-Museum in Tunis und an der Badeküste von Sousse insgesamt 60 ausländische Touristen. Essebsi warnte bereits, dass der Staat am Terror zerbrechen könnte. Der Tourismus, wichtigster Devisenbringer, ist zusammengebrochen. Viele Hotels mussten schließen, Kreuzfahrtschiffe meiden tunesische Häfen, Reiseunternehmen zogen sich zurück. Zehntausende verloren ihre Jobs. Die Arbeitslosenquote liegt bei 15 Prozent, die inoffizielle Rate ist eher doppelt so hoch.

Frauen klagen über "weit verbreiteten Sexismus" in Tunesiens Gesellschaft, in der der Einfluss islamistischer Fundamentalisten zunehme. Amina Sboui, Tunesiens bekannteste Feministin, berichtet: "Jede Frau in Tunesien war schon Opfer von Gewalt. Sexuelle Belästigung gehört zum Alltag." Wer sich zu westlich oder gar mit Minirock kleidet, kann auf der Straße Ärger bekommen.

Auch der Friedensnobelpreis für Tunesien im Herbst 2015 konnte nicht verhindern, dass die politischen Spannungen wachsen. Die Partei Nidaa Tounes, die von Staatschef Essebsi gegründet wurde und die erste freie Wahl gewann, ist zerbrochen. Die Einheit in der Mehrparteien-Regierung ist dahin. Ein Teil der Nidaa-Parlamentarier nimmt Staatschef Essebsi übel, seinen Sohn Hafedh Caid Essebsi zum neuen Parteichef gemacht zu haben. Man befürchtet, dass Essebsi eine Familienherrschaft ansteuert - nach dem Vorbild der früheren Ben-Ali-Diktatur.

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