Propagandakrieg, Niederlage und Imageschaden "Diese Boeing ist auf Russland gefallen"

MOSKAU · Am 10. Juli nahmen russische Journalisten per Audio auf, wie Rebellenkämpfer über dem Flughafen Donezk ein Großflugzeug beschossen. "Jungs", rief ein Flak-Guerillero laut, "das ist eine Passagiermaschine!" "Spucken wir drauf!", entgegnete ein anderer.

 Bewaffnete prorussische Rebellen blockieren den Zugang zur Absturzstelle der malaysischen Boeing 777 in der Nähe von Grabovo, 100 Kilometer östlich von Donezk.

Bewaffnete prorussische Rebellen blockieren den Zugang zur Absturzstelle der malaysischen Boeing 777 in der Nähe von Grabovo, 100 Kilometer östlich von Donezk.

Foto: dpa

"Drauf spucken? Wie kannst du so etwas sagen?" "Wir haben hier Flugverbotszone, was wollen hier Passagierflieger?", kam die Antwort. "Da sitzt weiß Gott wer drin. Und dann fallen Bomben."

Auf russischsprachigen Facebook-Seiten wird schon heftig diskutiert, ob die Rebellen vor dem Abschuss der malaysischen Boeing 777, bei der am Donnerstagabend 298 Menschen ums Leben kamen, ähnliche Debatten geführt haben. Auch in der westlichen Öffentlichkeit setzt sich immer mehr die Meinung durch, dass die von Russland unterstützten Separatisten die Passagiermaschine abgeschossen haben. Wladimir Putin droht eine katastrophale Niederlage im Propagandakrieg gegen die Ukraine.

Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko gab am Sonntag bekannt, sein Land besitze außer Mitschnitten von Telefongesprächen der Rebellen, die deren Täterschaft bewiesen, auch Satellitenfotos von dem Luftabwehrgeschütz, das die malaysische Boeing heruntergeholt hatte. Schon am Freitag hatte US-Präsident Barack Obama erklärt, die Rakete sei offenbar von Rebellengebiet aus abgeschossen worden.

Moskau aber behauptet, eine bei Donezk stationierte BUK-Raketenbatterie der ukrainischen Armee habe gefeuert. "Die ukrainische Flakschützen sind kaum trainiert", sagt der russische Militärexperte Viktor Litowkin unserer Zeitung. "Vielleicht haben sie die Maschine zu Übungszwecken ins Visier genommen, aber vergessen, das Abschusspult von Gefechts- auf Trainingsmodus umzuschalten."

Wladimir Putin telefonierte am Sonntag mit der deutschen Kanzlerin Merkel, sein Außenminister Sergej Lawrow mit US-Kollegen John Kerry, hinterher betonte ein Kremlsprecher die Wichtigkeit einer "objektiven Untersuchung". Aber Journalisten, ukrainische Rettungsmannschaften und OSZE-Beobachter in der Absturzzone klagen, die Rebellenkämpfer dort behinderten ihre Arbeit massiv. Nach Augenzeugenberichten lassen die Separatisten nicht nur Kreditkarten und andere Wertsachen verschwinden, sondern verfrachteten auch mindestens 50 Tote in unbekannte Richtung. Immer mehr westliche Politiker stellen sich auf die Seite der Ukraine.

Der niederländische Regierungsminister Mark Rutte, der bei dem Absturz 193 Landsleute verlor, forderte schnelle Ermittlungsresultate - von Russland: "Putin muss jetzt die Verantwortung für die Rebellenkämpfer übernehmen und den Niederlanden und der Welt beweisen, dass er tut, was von ihm erwartet wird." Der australische Premierminister Tony Abbott wollte nicht ausschließen, dass sein Land Putin zum G20-Gipfel in Australien auslädt.

Auch 28 Australier waren bei dem Abschuss getötet worden, wie Abbott vermutet, mit einem von Moskau an die Rebellen gelieferten Raketensystem. Und der britische Premierminister David Cameron erklärte: "Wenn Präsident Putin seinen Umgang mit der Ukraine nicht ändert, dann müssen Europa und der Westen ihren Umgang mit Russland fundamental ändern". Großbritannien, Frankreich und Deutschland drohen Russland laut Radio Echo Moskwy mit neuen Sanktionen, falls die Separatisten den gesamten Absturzraum nicht bis Montag für Retter und Ermittler freigeben.

Ukrainische wie russische Experten versichern, die zusammengewürfelten Rebellentrupps seien unfähig, ein BUK-Raketensystem fachmännisch zu bedienen. "Dazu bedarf es einer eingespielten Mannschaft von 30 professionellen Soldaten", sagt Litowkin. Wenn also die Ukrainer die Rakete nicht abfeuerten, dann mit großer Wahrscheinlichkeit russische Berufssoldaten. "Russland droht zum Schurkenstaat wie Nordkorea zu degradieren", sagt der Moskauer Publizist Aider Muschdabajew.

Die Kremlargumente widersprechen einander seit Tagen. Erst behauptete der Staatssender NTV, die Ukrainer hätten die malaysische Maschine beim Versuch abgeschossen, Putins Präsidentenmaschine zu treffen, dann zitierte der Staatssender Rossija 1 einen anonymen Rebellenkämpfer, der gesehen haben will, wie ein ukrainischer SU-Düsenjäger die Boeing unter Feuer nahm.

"Und viele Propagandaparolen klingen seltsam kleinlaut, als wolle man sich rechtfertigen", sagt ein PR-Fachmann aus Moskauer Sicherheitskreisen unserer Zeitung. "Die Schauergeschichten von geschlachteten Kindern im Donbass funktionieren im Inland wunderbar", sagt Muschdabajew. "Aber im Westen büßen unsere Medien und unser Präsident ihre Glaubwürdigkeit immer mehr ein." Auch die Zeitung Moskowski Komsomoljez prophezeit schwere Schäden für Image und Psyche des Vaterlandes: "Diese Boeing ist auf Russland gefallen."

Schwierige Identifizierung

Bei schweren Unglücken wie Flugzeugabstürzen oder Naturkatastrophen ist eine Identifizierung der Toten oft extrem schwierig. Zerfetzt oder bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, können sie oft nicht mehr von Angehörigen oder über Fingerabdrücke identifiziert werden. Die akribische Kleinarbeit der Spezialisten nimmt dann viel Zeit in Anspruch.

Ermittler können die Leichen zum Beispiel über Narben oder andere unabänderliche Körpermerkmale identifizieren. Ebenso besteht die Chance, die Identität über persönliche Gegenstände wie Uhren oder Eheringe festzustellen. Nach einer Autopsie kann zudem über Krankenakten ermittelt werden, um wen es sich handelt. Alte Knochenbrüche, Herzschrittmacher, künstliche Gelenke oder andere Spuren operativer Eingriffe können Auskunft über die Identität geben. Eine weitere Möglichkeit ist die zahnärztliche Untersuchung. Gebiss-Anomalien, die Anordnung von Füllungen oder die Stellung von Zahnprothesen geben Fahndern Aufschluss.

Eine aufwendige Methode ist die Leichen-Identifizierung über eine DNA-Analyse. Dabei werden Teile der Erbsubstanz Desoxyribonukleinsäure (DNA) untersucht. Es genügen geringste Spuren etwa von Haaren oder Hautschuppen. Angehörige möglicher Opfer müssen persönliche Gegenstände wie einen Kamm oder eine Zahnbürste mit genetisch verwertbarem Material zum Vergleich bereitstellen.

Oft werden Experten des Bundeskriminalamts (BKA) um Unterstützung gebeten. Das BKA verfügt seit einem Flugzeugabsturz auf Teneriffa 1972 über die Spezialeinheit "Identifizierungskommission".

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