Abstimmung in den Niederlanden Die Wut auf die EU entlädt sich

DEN HAAG · In Brüssel herrscht nach dem antieuropäischen Referendum in den Niederlanden tiefe Bestürzung. Politische Beobachter sprechen von einer Protestabstimmung.

 Wahlhelfer zählen die Stimmzettel des Referendums in den Niederlanden aus.

Wahlhelfer zählen die Stimmzettel des Referendums in den Niederlanden aus.

Foto: dpa

Jean-Claude Junckers Stimmung war im Keller. „Der Präsident ist traurig“, antwortete gestern sein Sprecher auf die Frage eines Korrespondenten nach dem Gemütszustand des Kommissionschefs. Dazu hat Juncker allen Grund. Denn auch wenn von den 13 Millionen niederländischen Wählern am Vortag lediglich 32 Prozent an die Wahlurnen gingen, so waren das doch genug, um aus einem harmlos erscheinenden Referendum über den Assoziierungsvertrag mit der Ukraine einen politischen Sprengsatz zu machen. Zumal 61 Prozent das Dokument mit Kiew, das 2013 den Volksaufstand auf dem Maidan ausgelöst hatte, ablehnten.

„Erneut hat die Wut eine Stimme bekommen“, kommentierte die niederländische Zeitung „De Volkskrant“ am Morgen nach dem Votum. Der Rechtspopulist Geert Wilders jubelte bereits über den „Anfang vom Ende der EU“. Premier Mark Rutte hatte bereits unmittelbar nach der Bekanntgabe des Ergebnisses angekündigt: „Wenn das Referendum gültig ist, dann können wir den Vertrag nicht einfach so ratifizieren.“ Diese Situation ist eingetreten. Und auch in Brüssel zeigten sich die EU-Vertreter bestürzt.

„Ich nehme das Votum ernst. Es ist ein Ausdruck von Unzufriedenheit mit Politik und Eliten generell“, sagte der Vorsitzende der christdemokratischen EVP-Mehrheitsfraktion im Europa-Parlament, Manfred Weber. „Die Regierungen und Verwaltungen müssen Schluss machen mit Hinterzimmer-Deals, mehr auf Parlamente und Bürger zugehen und aktiv für ihre Entscheidungen werben.“

Der sozialdemokratische EU-Abgeordnete Knut Fleckenstein meinte allerdings: „Das niederländische Parlament sollte dafür Sorge tragen, dass zweieinhalb Millionen Niederländer nicht den Willen von 500 Millionen Europäern aushebeln werden.“ Tatsächlich dürfte sich an der Praxis zwischen der EU und der Ukraine erst einmal wenig ändern. 27 Staaten haben das Abkommen ratifiziert. „Bei der praktischen Umsetzung ändert sich nichts“, bekräftigte auch Kiews Außenminister Pawel Klimkin.

Doch das war gestern die geringste Sorge in Brüssel. Viel größer ist die Befürchtung, dass der Sieg der niederländischen Initiatoren der Volksabstimmung eine Stimmung verstärkt haben könnte, die den Skeptikern und Gegnern der Gemeinschaft zusätzlich Auftrieb gibt – und das alles wenige Wochen vor der Volksabstimmung der Briten über den Verbleib in der Gemeinschaft am 23. Juni.

Denn so wie den Niederländern geht es vielen Bürgern in den Mitgliedstaaten: Sie fühlen sich ohnmächtig angesichts der aus der Ferne agierenden Macht in Brüssel und Straßburg. Und sie können nicht einmal die Politik der eigenen Regierung beeinflussen, die immer mehr Kompetenzen an die EU-Zentrale abtritt.

Nicht nur hinter den Kulissen wird als Beispiel die „völlig entgleiste Diskussion“ um das Freihandelsabkommen mit den USA (TTIP) genannt, die die Kommission monatelang eskalieren ließ, ehe man ein Wendemanöver einleitete und auf die Kritik der Öffentlichkeit reagierte. „Europa darf nicht das Vertrauen der Menschen riskieren“, hieß es am gestrigen Donnerstag aus den Leitungsebenen der Kommission.

Der niederländische Premier Mark Rutte hat nun ein Problem: Die Gegner des Ukraine-Vertrages haben ihn gestoppt, obwohl er doch als Vorsitzender der EU für die weiteren Schritte der Gemeinschaft zuständig sein sollte. Und in den Führungsetagen der Union fühlt man sich einmal mehr unverstanden. Dass das Votum der Niederländer auch eine Quittung für die völlige Zerstrittenheit beispielsweise in der Flüchtlingskrise sein könnte, kommt zumindest in den offiziellen Analysen kaum vor.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort
Starker Tobak
Kommentar zu Vertuschungsvorwurf von Polizeibeamten Starker Tobak