Nach Urteil gegen Pussy Riot Die religiöse Symbolik in Russland wächst

MOSKAU · Seit ein Moskauer Gericht die drei jungen Frauen der feministischen Punk-Guerilla vor zwei Wochen in einem Aufsehen erregenden und als politisch motiviert angeprangertem Prozess zu zwei Jahren Strafkolonie verurteilt hat, schlägt die Stunde der Übergriffe und religiöser Symbolik. Kulminiert ist die Aufregung in der Bluttat von Kasan.

In Großbuchstaben hatte es da gestanden, auf der Blümchentapete in der Küche: "Free! Pussy Riot", in dunklem Rot. Geschrieben mit Blut von zwei Frauen, die tot in ihrer Wohnung lagen, mit zehn Messerstichen in Hals und Oberkörper. Sofort sprachen die Russen von einem Ritualmord. Von "ungeheuerlicher Provokation aus Regierungskreisen" und von "natürlicher, unvermeidlicher Tat", die all die auf dem Gewissen hätten, die Pussy Riot unterstützen.

Seit ein Moskauer Gericht die drei jungen Frauen der feministischen Punk-Guerilla vor zwei Wochen in einem Aufsehen erregenden und als politisch motiviert angeprangertem Prozess zu zwei Jahren Strafkolonie verurteilt hat, schlägt die Stunde der Übergriffe und religiöser Symbolik. Kulminiert ist die Aufregung in der Bluttat von Kasan.

Die Tat in der Teilrepublik Tatarstan, etwa 800 Kilometer östlich von Moskau entfernt, scheint nun aufgeklärt. Habgier, Geldschulden, nicht erwiderte Liebe, so die Schlussfolgerung der Ermittler. Ein 38-jähriger Uni-Angestellter soll seine gleichaltrige Freundin nach einem Streit mit einem Messer angegriffen und getötet haben.

Als die 76-jährige Mutter der Getöteten vor dem Täter stand, griff er auch sie an - um sie als Zeugin aus dem Weg zu räumen. Mit dieser Version traten die Ermittler gestern an die Öffentlichkeit. Kein Ritualmord also. Nur die Tat eines Hochverschuldeten, der mit seiner Blutschmiererei von Pussy Riot eine falsche Fährte habe legen wollen. Weiter nichts. Kühl sind die Erklärungen der Staatsdiener.

Die Diskussion um Kirche und Religion, um Schuld und Sühne, um Kunst und Beleidigung von Gläubigen geht allerdings alles andere als sachlich zu. Moskau: Unbekannte reißen einem Mann sein T-Shirt vom Leib. Darauf war die Mutter Gottes in bunter Sturmmaske abgebildet. Region Tscheljabinks am Ural: Unbekannte sägen drei Kreuze ab. Archangelsk im Norden des Landes: Unbekannte kippen ein Kreuz aus der Verankerung.

Seit der Urteilsverkündung gegen die Frauen, die in der größten Kirche Russlands die Mutter Gottes anriefen, Feministin zu werden und den Präsidenten zu vertreiben, vergeht kein Tag ohne eine derartige Meldung. Eine Bewegung "Volkswille" bekannte sich im Internet zu den Taten und kündigte an, solange Kreuze zu zerstören, bis Pussy Riot wieder auf freiem Fuß sind.

Schon sprechen Politiker der Kreml-Partei "Einiges Russland" von Gesetzen gegen die "Schändung von Heiligtümern der Kirche". Hier tritt Alexander Sidjakin wieder an. Der junge Duma-Abgeordnete hatte das verschärfte Demonstrationsrecht vorangetrieben und die Gesetzesnovelle zur Registrierung von Nichtregierungsorganisationen als "ausländische Agenten" ausgearbeitet.

Derweil organisieren kirchentreue Aktivisten der Bewegung "Heilige Rus" Patrouillen um orthodoxe Kirchen. Die Männer bilden sich auf Fotos gern mit Gewehren im Wald ab. Auch das Justizministerium riefen sie bereits um Hilfe. Es solle Pro-Pussy-Riot-T-Shirts als "extremistisch" einstufen. Der Moskauer Tourismus-Ausschuss fordert indes Hotels extra für Gläubige - mit Ikonen an den Wänden, religiösen Zeitschriften und einem Gebetsraum.

Das Thema Religion beschäftigt die Russen wie schon lange nicht mehr. Von Montag an dürfte es noch stärker präsent sein: Im neuen Schuljahr steht - nach mehr als 90 Jahren - Religionsunterricht wieder auf dem Stundenplan.

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