Debatte um visafreie Einreise für Türken Die Machtprobe

Brüssel/Istanbul · Der türkische Staatspräsident Erdogan will im Streit mit Brüssel hart bleiben und die Antiterror-Gesetze nicht ändern. Die visafreie Einreise für Türken gibt es vorerst jedenfalls nicht. Das Europäische Parlament stoppt die Beratungen.

 Will der Europäischen Union zeigen, wer am längeren Hebel sitzt: der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan.

Will der Europäischen Union zeigen, wer am längeren Hebel sitzt: der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan.

Foto: AFP

Es ist ein Zusammenstoß, den viele Beteiligte kommen sehen, bei dem die Chancen zur Vermeidung der Kollision aber trotzdem immer weiter sinken: Der Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei droht an Differenzen zwischen Brüssel und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zu zerbrechen. Erdogan sucht die Machtprobe mit den Europäern und ist offenbar bereit, das Scheitern des Abkommens in Kauf zu nehmen. Er nährte diesen Eindruck jüngst, als er in einer Ansprache vor Anhängern der EU zugerufen hatte: „Geh’ deinen Weg. Wir gehen unsern Weg.“

In Straßburg haben die Chefs der Fraktionen im Europäischen Parlament sowie Parlamentspräsident Martin Schulz die Beratung des Abkommens jedenfalls erst einmal gestoppt. „Meine Aufgabe ist es zu prüfen, ob die rechtlichen Voraussetzungen für die Beratungen im Parlament erfüllt sind“, betonte der SPD-Politiker gestern. „Mein Ergebnis ist, dass sie nicht erfüllt sind.“ Ohne Schulz’ Unterschrift konnte der zuständige Justizausschuss nicht tätig werden.

Und da der Zeitplan der Plenarsitzungen ausgebucht ist, sind die Chancen, dass man wenigstens im Juli die Sache absegnen kann, nur noch theoretischer Natur. Schulz: „Es ist außerhalb jeder Diskussion“, dass das Parlament mit den Beratungen beginnen werde, so lange nicht alle Bedingungen von Ankara akzeptiert worden sind.

Noch vor zwei Wochen schien alles auf bestem Wege zu sein. Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, der den Deal im März mit der EU ausgehandelt hatte, machte im Parlament von Ankara Druck, um die Kriterien der Europäer für die zugesagte Visafreiheit im Juni zu erfüllen. Im Gegenzug für die Mitarbeit der Türkei bei der Reduzierung der Flüchtlingszahlen hatte die EU die Reisefreiheit für Türken im Schengen-Raum in Aussicht gestellt.

Visafreies Reisen ist ein Traum für viele türkische Normalbürger, die derzeit viel Zeit, Geld und Nerven für eine europäische Reiseerlaubnis investieren müssen.

Das Projekt war Teil von Davutoglus Bemühungen, gegenüber dem übermächtigen Erdogan mehr eigenes Profil zu gewinnen. Vergangene Woche wurde Davutoglu deshalb von Erdogan abgesägt, der selbst bestimmen will, wo es in der Außenpolitik langgeht. Seitdem schimpft der Präsident über die Europäer und über EU-Bedingungen für die Visafreiheit – deren Erfüllung noch vor kurzem von Davutoglu zugesagt worden war.

67 der geforderten 72 Voraussetzungen hatte die Regierung unter Davutoglu erledigt. Doch seitdem er den Machtkampf gegen Erdogan verloren hat, steht die türkische Gesetzesmaschinerie still.

Worum geht es Erdogan? Im Mittelpunkt steht sein Nein zum Ruf der EU nach Änderung der türkischen Antiterror-Gesetze. In der jetzigen Form lassen die türkischen Bestimmungen zum Kampf gegen Extremisten auch ein staatliches Vorgehen gegen Journalisten und Akademiker zu, weil der Tatbestand des Terrorismus nicht konkret gefasst wird. Zum Beispiel werden diese auf gewaltfreie politische Gegner Erdogans wie die Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen angewendet.

Das will die EU auf keinen Fall akzeptieren. Ankara sieht darin jedoch keinen Stolperstein. „Unsere Gesetze entsprechen den EU-Standards, eine Änderung ist weder nötig noch akzeptabel“, betonte der türkische Europaminister Volkan Bozkir, der gestern eigens nach Straßburg gereist war, um in einem Gespräch mit Parlamentschef Schulz und Vertretern der Fraktionen um Verständnis zu werben.

Die Türkei-Beauftragte der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, Emma Sinclair-Webb, wirft Ankara vor, nur deshalb an den Gesetzen festhalten zu wollen, weil sonst Tausende von Strafprozessen gegen friedliche Regierungskritiker eingestellt werden müssten.

Der Erdogan-kritische Journalist Abdullah Bozkurt vermutet, dass es bei Erdogans Widerstand gegen die EU nicht nur um die Antiterror-Gesetze geht. Die EU verlange auch einen stärkeren Kampf gegen die Korruption mit einer effizienten und unabhängigen neuen Behörde, schrieb Bozkurt auf Twitter. „Das wäre das Todesurteil für das korrupte Patronage-System, das Erdogan und seine Lakaien in der Türkei erreichtet haben.“

Außerdem will Erdogan selbst jener Politiker sein, der den Türken die Visafreiheit ermöglicht. Deshalb wischt der Präsident den Juni-Termin Davutoglus vom Tisch und spricht vom Oktober: Die EU habe ihm selbst die Umsetzung der Visafreiheit zu diesem Zeitpunkt zugesagt, betont Erdogan. Mit Forderungen wie der nach neuen Antiterror-Gesetzen habe die EU inzwischen draufgesattelt. Offenbar zählt Erdogan darauf, dass er im Herbst die Visafreiheit ohne die jetzt geforderten Kriterien durchsetzen kann.

Für kritische Stimmen aus Europa halten Erdogan und seine Gefolgsleute eine Antwort parat: Sollte die Visafreiheit ausbleiben, „dann schicken wir die Flüchtlinge los“, warnte Erdogans Berater Burhan Kuzu auf Twitter. Damit meinte er vor allem das EU-Parlament, das erst dann über die türkische Visafreiheit entscheiden will, wenn Ankara alle Kriterien erfüllt hat. Schon im vergangenen Jahr hatte Erdogan damit gedroht, Syrer in der Türkei auf Busse Richtung Europa zu setzen.

Während Erdogan die Positionen Davutoglus aus den Gesprächen mit der EU widerruft, rückt die Frage nach der Vertragstreue der türkischen Regierung in den Vordergrund. Die Türkei könne nicht hingehen und sagen, „wir machen mal einen Tag dies und mal einen Tag was anderes“, sagte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. „In der internationalen Politik hängt alles mit allem zusammen.“ Erdogan werde sich sehr genau überlegen, ob er die mit dem Flüchtlingsabkommen verbundene Annäherung seines Landes an die Europäische Union „fahrlässig“ aufs Spiel setzten wolle.

Doch Schulz könnte sich täuschen. Schon vorige Woche hatte Erdogan mit Blick auf ein Aus des Flüchtlingsdeals erklärt, die EU solle sich einigen, mit wem sie wolle. Europa und die Türkei würden eben getrennte Wege gehen, wenn es keine Verständigung in der Frage der Antiterror-Gesetze gebe.

Der türkische Präsident sieht sich gegenüber den wegen einer möglichen neuen Flüchtlingswelle nervösen Europäern in einer starken Position. Hinter seiner Haltung steht zudem die Überzeugung, dass die Türkei als Regionalmacht unabhängig genug ist, um ihre Interessen auch gegenüber westlichen Partnern durchzusetzen.

In der Parlamentsdebatte spielte die Türkei gestern keine Rolle mehr. Hinter den Kulissen, so ist in Brüssel zu hören, werde aber schon darüber nachgedacht, wie man eine neue Flüchtlingswelle „abfangen“ könnte, falls Ankara tatsächlich aus dem Deal aussteigt. Dann, so hieß es, würden wohl die inzwischen auf den griechischen und italienischen Inseln installierten Hotspots die Flüchtlinge erfassen, registrieren und notfalls auch zurückschicken – jedoch nicht Richtung Bosporus.

Ob es wirklich zu einer Eskalation und zur Scheidung der beiden Partner EU und Türkei in der Flüchtlingsfrage kommt, ist allerdings noch offen. Der CDU-Europa-Abgeordnete Elmar Brok, Chef des außenpolitischen Ausschusses, mahnte gestern zu Gelassenheit. In Ankara gebe es einen Machtkampf und Erdogan betreibe viel „innenpolitische Rhetorik“. Die Europäer sollten „Ruhe bewahren, Nerven behalten“. Schließlich habe der Staatspräsident selbst „großes Interesse an der Visafreiheit“ und würde bei einem Scheitern im eigenen Land „unpopulär“.

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