Flüchtlingspolitik Zwischen Recht und Wirklichkeit

BONN · Die Gleichzeitigkeit ist sicher zufällig, aber die Massierung fällt doch auf: Neben dem früheren Verfassungsrichter Udo Di Fabio, der an der Bonner Universität lehrt, haben auch der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Hans-Jürgen Papier, der frühere Präsident des Verfassungsgerichtshofs für Nordrhein-Westfalen, Michael Bertrams, und der Staatsrechtler Ulrich Battis direkt oder indirekt deutliche Kritik an der Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel geübt.

 Die Einreisepraxis bei Flüchtlingen kritisiert Udo Di Fabio.

Die Einreisepraxis bei Flüchtlingen kritisiert Udo Di Fabio.

Foto: dpa

Am weitesten geht dabei Bertrams. Er wirft Merkel Kompetenzüberschreitung und möglicherweise Verfassungsbruch vor. Im "Kölner Stadt-Anzeiger" schreibt Bertrams, ihr Vorgehen werfe die Frage auf, "ob sie zu ihrem Alleingang überhaupt legitimiert war".

Der frühere oberste Richter Nordrhein-Westfalens weiter: "In unserer repräsentativen Demokratie liegen alle wesentlichen Entscheidungen ... in den Händen der vom Volk gewählten Abgeordneten ... Kann also schon die Entsendung einiger hundert Soldaten nach Mali nur mit Zustimmung des Bundestages erfolgen, dann ist diese erst recht erforderlich, wenn es um die Aufnahme Hunderttausender Flüchtlinge geht."

Bertrams spricht deshalb von einem "Alleingang" Merkels und nennt ihn einen "Akt der Selbstermächtigung".

Politisch befürchtet Bertrams durch diese Politik der Bundesregierung auch gravierende Folgen für die EU. Komme es nicht bald zu einer europäischen Lösung der Flüchtlingsproblematik, mit der Merkel ja ihre Ablehnung nationaler Obergrenzen begründet, drohe ein Rückfall in nationale Grenzkontrollen.

"Es droht mit anderen Worten ein Verlust der europäischen Freizügigkeit, eine der bislang größten Errungenschaften im europäischen Einigungsprozess."

Für den 72-jährigen früheren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, wird in der Flüchtlingskrise ein "eklatantes Politikversagen" deutlich. Im Handelsblatt sagte Papier: "Noch nie war in der rechtsstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik die Kluft zwischen Recht und Wirklichkeit so tief wie derzeit.

Das ist auf Dauer inakzeptabel." Papier spricht von "rechtsfreien Räumen" bei der Sicherung der Außengrenzen und nennt die unbegrenzte Einreisemöglichkeit einen "Fehler". Der frühere Verfassungsrichter weiter: "Es gibt kein voraussetzungsloses Recht auf Einreise für Nicht-EU-Ausländer ... Notfalls muss also für einen vorübergehenden Zeitraum an den Grenzen die Einreiseberechtigung von Ausländern kontrolliert und müssen illegale Einreisen unterbunden werden."

Staatsrechtler Battis pflichtet Bertrams und Papier bei. In der "Nordwest-Zeitung" sagte er: "Ohne Grenzkontrollen wird auf Dauer nicht nur der Sozialstaat ausgehoben, sondern auch der Rechtsstaat." Und: "Die Entscheidung, ob in großem Stil Einwanderung nach Deutschland stattfindet, müsse der Bundestag treffen: "Das kann die Bundesregierung nicht allein entscheiden."

Auslöser der Rechtsdebatte war der frühere Verfassungsrichter Di Fabio gewesen, der in einem Gutachten erklärt hatte, die Verfassung sei nicht dafür da, den Schutz aller Menschen weltweit "durch faktische oder rechtliche Einreiseerlaubnis" zu sichern.

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