Interview mit Cem Özedmir "Wir können nicht jedes Jahr eine Million Flüchtlinge aufnehmen"

Berlin · Der Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Cem Özdemir, warnt vor der Illusion, Deutschland wäre sicherer vor Terroranschlägen, wenn es sich nicht militärisch am Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat beteiligen würde. Mit Özdemir sprach in Berlin Holger Möhle.

 "Etwas wird ja nicht automatisch falsch, weil es die CSU auch fordert", sagt Cem Özdemir.

"Etwas wird ja nicht automatisch falsch, weil es die CSU auch fordert", sagt Cem Özdemir.

Foto: dpa

Herr Özdemir, ist der Anschlag auf Mitglieder einer deutschen Reisegruppe in Istanbul Vergeltung für den Einsatz deutscher Tornados in Syrien?
Özdemir: Ob gezielt eine deutsche Reisegruppe ausgesucht wurde, lässt sich im Moment noch nicht sagen. Aber fest steht: Deutschland ist seit Langem im Fadenkreuz des internationalen Terrorismus. Deswegen ist es richtig, den IS zu bekämpfen, auch militärisch. Wenn Istanbul etwas gezeigt hat, dann ist es die globale Gefahr, die vom IS ausgeht. Deswegen muss auch die Antwort global sein.

Ist die Terrorgefahr durch den deutschen Tornado-Einsatz gestiegen?
Özdemir: Die Gefahr war auch vorher da. Wir hatten in der Vergangenheit auch Glück, weil Bomben aus technischen Gründen nicht gezündet haben oder Ermittler rechtzeitig zugreifen konnten. Selbst wenn Deutschland keine Tornados gegen den IS schicken würde, könnte es jederzeit Deutsche an jedem Ort der Welt treffen. Es ist ein gefährlicher Trugschluss, dass Deutschland sicherer wäre, würde es sich aus dem Kampf gegen den IS heraushalten. Wir sollten auch nicht vergessen: Einige IS-Kämpfer haben ihren Ursprung in unserem Land.

Wäre es da nicht konsequent, Deutschen, die zur Ausbildung in S-Terrorcamps waren oder für den IS gekämpft und gemordet haben, die Wiedereinreise zu verweigern?
Özdemir: Jeder, der für den IS kämpft oder mordet, muss wissen: Das deutsche Strafgesetz greift auch bei Taten im Ausland. Wir können deutschen Staatsbürgern nicht die Einreise verweigern, doch sie gehören hier hinter Schloss und Riegel. Und desillusionierte Aussteiger müssen wir nutzen, um gefährdete Jugendliche abzuschrecken.

Fühlt es sich für Sie nicht komisch an, wenn die Grünen nach mehr Polizei rufen und damit auf CSU-Linie schwenken?
Özdemir: Etwas wird ja nicht dadurch automatisch falsch, weil es die CSU auch fordert. Wir Grüne waren schon immer skeptisch, durch viele neue Gesetze mehr virtuelle Sicherheit schaffen zu wollen. Wir sind praxisorientiert. Wir brauchen angemessen ausgestattete und bezahlte Polizisten auf der Straße.

Wie kann es sein, dass sich rund 1000 Männer vorwiegend aus Nordafrika in einer weltoffenen deutschen Großstadt wie Köln ein Verhalten leisten, als gäbe es für sie in Deutschland keine Aufnahmebereitschaft und kein Bleiberecht?
Özdemir: Erst einmal müssen die Geschehnisse aufgeklärt werden, es stehen mittlerweile so viele sich widersprechende Versionen im Raum. Was aber jetzt schon feststeht: Es gibt keine Rechtfertigung für ein solches Verhalten. Auch der Hinweis, dass es Sexismus gegenüber Frauen in Deutschland auch vor Köln schon gab, darf uns nicht ignorieren lassen, dass die Ereignisse von Silvester eine neue Dimension darstellen. Die Täter müssen mit der ganzen Härte des Gesetzes bestraft werden, damit es sich herumspricht, dass Deutschland kein rechtsfreier Raum ist. Alle, die zu uns kommen, müssen lernen, dass in Deutschland die Gleichberechtigung von Mann und Frau ein hart erkämpfter Wert ist. Und so wie es zur Wahrheit dazugehört, dass die Kriminalitätsrate bei den zu uns kommenden Menschen aus Syrien niedriger ist, müssen wir uns auch anschauen, warum sie unter Zugewanderten aus dem Westbalkan und Nordafrika höher ist.

Müssen Tunesien, Algerien und Marokko also als sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden?
Özdemir: Jetzt kommt der schnelle Ruf der Symbolpolitiker. Mir geht es auch darum, uns mit der Situation in Nordafrika als Nachbarregion zu beschäftigen. Und wir sollten erst einmal 660 000 unbearbeitete Asylanträge abarbeiten und mehr Sprach- und Integrationskurse anbieten. Wir müssen legale Zugangswege für Menschen aus Nordafrika schaffen. Auch hier ist der Weg über das Asylrecht angesichts der niedrigen Anerkennungsrate der falsche. Generell gehört dazu ein modernes Einwanderungsgesetz. Dem verweigert sich die Union bis heute.

Sie begrüßen ein schärferes Sexualstrafrecht nach den Exzessen gegen Hunderte Frauen in der Silvesternacht in Köln und Hamburg?
Özdemir: Die Grünen haben schon im Sommer einen Gesetzentwurf eingebracht, die Istanbul-Konvention aus dem Jahr 2011 endlich umzusetzen. Darin verpflichtet sich auch Deutschland, nicht einverständliche sexuelle Handlungen unter Strafe zu stellen. Hier hat die große Koalition erst Köln gebraucht, um in die Puschen zu kommen. Ein Nein einer Frau muss ein Nein sein. Und das muss so im Gesetz stehen.

Werden die Grünen in Bundesrat und Bundestag der großen Koalition die Hand reichen, wenn es darum geht, straffällig gewordene Ausländer schneller auszuweisen?
Özdemir: Im Föderalismus sprechen Bundespolitiker nicht für die Länder. Ich glaube aber nicht, dass die Täter von Köln erst mal in die Gesetzbücher geguckt haben. Sie kommen aus patriarchalen Gesellschaften, wo die Polizei verachtet wird und der Staat sich nicht um sie kümmert. Und diese Denkstrukturen gilt es aufzubrechen. Muslimische Länder, die Frauen volle Rechte verweigern, sie ins Haus verbannen und so auf 50 Prozent des Verstandes einer Gesellschaft verzichten, haben keine Zukunft. Darüber muss offen geredet werden.

[Zur Person]Die Frage bleibt: Wie lange kann Deutschland einen Zuzug von jährlich mehr als einer Million Flüchtlinge verkraften?
Özdemir: Wir werden nicht jedes Jahr eine Million Flüchtlinge aufnehmen können. Das war ein außergewöhnlicher Kraftakt, ...

Die Januar-Zahlen mit täglich 3000 deuten darauf hin, dass es in diesem Jahr wieder ähnlich viele werden könnten...
Özdemir: ...den darf man auch nicht klein reden. Integration ist hochanstrengend für alle Beteiligten. Wenn wir die Flüchtlingszahlen reduzieren wollen, müssen wir Fluchtursachen beseitigen.

Aber die Wirklichkeit ist anders!
Özdemir: Wir müssen aufhören, Waffen an die Saudis zu liefern. Und natürlich müssen wir der Türkei bei der Unterbringung von Flüchtlingen helfen, aber ohne schmutzigen Deal, der Staatspräsident Erdogan freie Hand gibt, wenn er nach dem Muster des syrischen Machthabers Assad Städte in seinem eigenen Land abschnürt, die Menschen dort quasi gefangen hält und Ausgangssperren verhängt. So entsteht die nächste Flüchtlingswelle.

Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel von den EU-Partnern bei der Verteilung von Flüchtlingen in Europa weiter im Stich gelassen wird, was dann?
Özdemir: Es kann nicht sein, dass alle Partnerstaaten gerne in Fördertöpfe greifen, einige Staaten sich aber verweigern, wenn es um Solidarität bei der Flüchtlingsaufnahme geht. Entweder ein EU-Staat nimmt Flüchtlinge auf, oder er muss einen Obolus bezahlen.

Einen EU-Flüchtlings-Soli?
Özdemir: Wenn sie so wollen. EU-Staaten, die keine Flüchtlinge aufnehmen, müssen dann eben in eine Umlage einzahlen und sich so an den Kosten jener Länder beteiligen, die zusätzlich Flüchtlinge aufnehmen. Es ist übrigens nicht besonders christlich, wenn Staaten wie die Slowakei nur christlichen Flüchtlingen Zuflucht gewähren.

In zwei Monaten stehen drei wichtige Landtagswahlen an. Wäre Schwarz-Grün in Baden-Württemberg und in Rheinland-Pfalz Vorbote für ein solches Bündnis im Bund 2017?
Özdemir: Uns geht es in Baden-Württemberg darum, dass Winfried Kretschmann Ministerpräsident bleibt, in Rheinland-Pfalz wollen wir unsere erfolgreiche Regierungsbeteiligung verteidigen und in Sachsen-Anhalt die grüne Stimme stärken. Und was die Bundestagswahl 2017 angeht, darf ich ihnen als Schwabe sagen: Bis 2017 fließt noch viel Wasser den Neckar hinunter. Ich tue mich mit Herrn Söder von der CSU ungefähr so schwer wie mit Frau Wagenknecht von der Linken.

Werden die Grünen ihre Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl in einer Urwahl bestimmen?
Özdemir: Davon gehe ich fest aus. Und um Ihre nächste Frage gleich vorwegzunehmen: Ich blicke auf einen sehr erfolgreichen Bundesparteitag zurück und jetzt kommt - wie angekündigt - die nächste Etappe, nämlich dass ich mich zur Spitzenkandidatur äußere.

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