Beginn der EU-Ratspräsidentschaft Warum Angela Merkel Europa retten könnte

Analyse | Berlin/Brüssel · Bundeskanzlerin Angela Merkel ist zum Ende ihrer Amtszeit das Gegenteil einer amtsmüden Regierungschefin. Befreit von der Erwartung ihrer Wiederwahl, will sie während der EU-Ratspräsidentschaft nun weitreichende Entscheidungen treffen.

 Bundeskanzlerin Angela Merkel will während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft historische Entscheidungen treffen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel will während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft historische Entscheidungen treffen.

Foto: AP/Hayoung Jeon

Ein bisschen hört es sich ähnlich an:  Donald Trumps „Macht Amerika wieder großartig“ und Angela Merkels „Europa wieder stark machen“. Der entscheidende Unterschied: Die Kanzlerin stellt ein Wort voran. Es ist eine Bitte, eine Botschaft, eine Mahnung: „Gemeinsam“. Das Brandenburger Tor, das Symbol für die Überwindung von Mauern, wurde vom Kanzleramt als Projektionsfläche für das Motto der an diesem Mittwoch beginnenden deutschen EU-Ratspräsidentschaft ausgewählt: „Gemeinsam. Europa wieder stark machen“, „Together for Europe’s recovery“, „Tous ensemble pour relancer l’Europe“. Es ist eine Antwort auf Trumps Protektionismus, Wladimir Putins Spaltungsversuche und Xi Jinpings Großmachtstreben.

In ihrer Neujahrsansprache vor sechs Monaten hatte Merkel gesagt: „Nur in der Gemeinschaft der Europäischen Union können wir unsere Werte und Interessen behaupten und Frieden, Freiheit und Wohlstand sichern.“ Sie wiederholte, was sie in all den Jahren so oft betont hat: „Deutschland geht es nur dann gut, wenn es auch Europa gut geht.“ Sie forderte: „Europa muss seine Stimme stärker in der Welt einbringen.“ Die 20er Jahre könnten gut werden. Ihre Zuversicht hörte sich so an: „Überraschen wir uns einmal mehr damit, was wir können.“ Überrascht wurde aber erst einmal die Welt von einer Pandemie. Corona durchkreuzte Merkels Pläne, das Programm wurde umgeworfen. Nun geht es nicht nur darum, Europa stärker zu machen, sondern Europa zu retten. Seinen Zusammenhalt, seine Werte, seinen Wohlstand.

Historische Entscheidungen stehen bevor

Als Merkel im Mai gemeinsam mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ein 500-Milliarden-Corona-Hilfspakt für die EU vorschlug, fiel ein Begriff, der nicht oft in einem politischen Leben zutrifft: historische Entscheidung. Merkel, die in der Euro-, der Schulden- und der Griechenlandkrise das Geld eisern zusammengehalten und notleidenden Staaten brutale Reformen und Einsparungen abverlangt hat, erklärt sich nun bereit, besonders schwer betroffenen Regionen Zuschüsse zu gewähren, die nicht zurückgezahlt werden müssen. Dafür soll sich die EU-Kommission verschulden dürfen, die Kosten werden auf alle EU-Mitgliedstaaten umgelegt. Das bedeutet indirekt eine Vergemeinschaftung der Schulden, gegen die sich Deutschland bisher mit allen Mitteln gewehrt hat. Aber nicht einmal in der Unionsfraktion im Bundestag regte sich Widerstand, in der es erbitterte Gegner sogar der streng auf Rückzahlung ausgerichteten Griechenlandpakete gibt.

Merkels Philosophie setzte sich durch: Die vorherigen Krisen hatten immer klar erkennbare Ursachen und Schuldige, die für Misswirtschaft, Korruption, Schlendrian verantwortlich waren, Corona kam über uns, einen Schuldigen gibt es nicht. Und dennoch sieht es danach aus, dass Merkel, auch befreit von den Erwartungen einer Wiederwahl, viel stärker ein soziales Gewissen zeigen kann, als es ihr während der Finanzkrisen mit Wolfgang Schäuble (CDU) als Finanzminister an der Seite möglich war.

Angela Merkels internationaler Ton ist rauer geworden

Ihren nächsten Schritt hat sie beim Treffen mit Macron in Meseberg am Montagabend gemacht. Sie bekannte sich zur Einführung einer CO2-Grenzsteuer. Mit dieser „border adjustment tax“ sollen Importprodukte, die im Ausland billiger und klimaschädlicher als innerhalb der EU hergestellt werden, belegt werden. Ein heikles Unterfangen, wie es im Kanzleramt heißt, denn damit könnte die EU, die sich über Zölle und Protektionismus des US-Präsidenten beklagt, schnell im Glashaus sitzen. Aber Merkel, die zum Ende ihrer Kanzlerschaft offensichtlich noch manche frühere Schwäche wieder gutmachen will, sagt: „Wenn wir sehr ambitionierte Klimaschutzziele haben, dann müssen wir uns sozusagen auch gegenüber denen schützen, die Produkte klimaschädlicher beziehungsweise unter viel mehr Ausstoß von CO2 importieren.“

Trump will sich überhaupt nicht an Klimaschutzziele halten. Und Merkel zieht jetzt Grenzen. Auch zu China. Der Ton sei international rauer geworden, sagt sie. Ihrer ist es auch. Während der Ratspräsidentschaft will sie möglichst die Verhandlungen seit 2012 zwischen der EU und China über ein Investitionsabkommen unter Dach und Fach bringen. Dafür soll Peking aber endlich einen besseren Marktzugang ermöglichen.

Merkel könnte Europa wieder voranbringen

Seit Beginn ihrer dritten Amtsperiode 2013 wurde unzählige Male beschrieben und getitelt, Merkels Zeit als Kanzlerin sei abgelaufen, sie müsse weg, sie habe den Zenit überschritten. Nun steht die 65-Jährige wieder – beziehungsweise immer noch – im Zentrum. Zufällig auch noch mit Ursula von der Leyen (CDU) als Verbündete an der Spitze der EU-Kommission. Die beiden Frauen vertrauen sich. Die beste Voraussetzung für Krisenmanagement. Und darauf setzt die EU jetzt. Dass Merkel als krisenerprobte und dienstälteste Regierungschefin  Europa voran bringt.

In die Kategorige „Lame Duck“ – Politiker, die wegen ihres absehbaren Abschieds aus der Politik  wenig handlungsfähig sind – fällt Merkel nicht. Ein Diplomat sagt, sie könne nun über ihre Amtszeit hinaus die Richtung vorgeben. Das sei ihre große Chance für ihre EU-Ratspräsidentschaft und das Schlusskapitel ihrer im nächsten Jahr 16-jährigen Kanzlerschaft. Damit könnten auch Wunden ein Stück heilen, die mit der Aufnahme von fast einer Million Flüchtlinge 2015 gerissen wurden.

Wenn Merkel am 31. Dezember 2020 ihre – läuft es nach Plan - letzte Neujahrsansprache halten wird, kann sie einen Gedanken aus dem vorigen Jahr wieder aufnehmen: „Überraschen wir uns einmal mehr damit, was wir können.“ Vor sechs Monaten hatte niemand eine Pandemie kommen sehen. Merkels Mantra war immer: Aus einer Krise sollte man besser herauskommen als man hineingestürzt ist. Wenn sie zum Ende ihrer Kanzlerschaft auch die Corona-Krise so bewältigen sollte, dürfte sie einmal mehr damit überrascht haben, was sie kann.

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