GA-Interview mit Bildungsforscherin „Ständig wird eine neue Sau durchs Dorf getrieben“

Aus den Schulen in Nordrhein-Westfalen hört man stets den Wunsch nach Ruhe an der Reformfront. Dennoch gibt es immer wieder Neuerungen. Mit der Schulpädagogik-Professorin Claudia Solzbacher sprach in Bad Honnef Bernd Eyermann.

Was müsste eine gute Bildungsreform leisten?

Solzbacher: In erster Linie kommt es darauf an, die Lehrkräfte mitzunehmen. Nicht wenige von ihnen haben das Gefühl, sie können ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen, weil eine Reform die andere jagt. Ihnen fehlt Selbstvertrauen, weil sie die Kinder zwar individuell fördern wollen, aber die Instrumente nicht kennen und sie nicht die Zeit haben, diese Instrumente nachzurüsten. Deshalb machen manche Dienst nach Vorschrift und schimpfen auf „die in Düsseldorf“ oder, was als Reaktion noch schlimmer ist, auf die Kinder und deren Eltern. Daneben gibt es hohe Krankheitsquoten. Die Lehrkräfte brauchen zur Umsetzung von Reformen Offenheit und mentale Beweglichkeit. Diese leiden bei Stress.

Die könnten sie über Fortbildungen bekommen.

Solzbacher: Ja und nein. Die Lehrer haben oft den Eindruck, dass ihnen fremde Methoden und fremder didaktischer Schnickschnack vorgegaukelt werden, die nicht zu ihrem Erfahrungswissen passen.

Wie sieht eine gute Fortbildung aus?

Solzbacher: Wenn man immer nur an Lehrkräfte appelliert: „Siehe Heterogenität als Chance an!“, dann entspricht das häufig noch nicht ihrem Erfahrungswissen. Ihre Erfahrung ist: Je heterogener, also je vielfältiger die Klasse ist, desto schwieriger ist es, die zu unterrichten. Ich kann einen solchen Unterricht nur als Chance sehen, wenn ich bereits positive Erfahrungen gemacht habe. Deshalb wäre es wichtig, in Schulen zu hospitieren, in denen die Lehrkräfte gelernt haben, was Heterogenität ist, welche Methoden es gibt und wie sich Schulen auf diesem Weg entwickeln können. Solche Netzwerke zwischen Schulen haben sich in NRW bewährt.

Seit 2005 hat jeder Schüler in NRW ein Recht auf Individuelle Förderung. Wie steht es damit?

Solzbacher: Wir haben bei Untersuchungen in Schulen festgestellt, dass von den über 50 in der Wissenschaft genannten Instrumenten und Methoden der Individuellen Förderung nur zwei regelmäßig benutzt werden, nämlich die Partner- und die Gruppenarbeit. Andere Methoden wie „Individuelles Feedback geben“ oder „Differenzierte Klassenarbeiten zu unterschiedlichen Zeitpunkten“ finden wir sehr selten. Es gibt aber natürlich auch Schulen, die das richtig gut machen.

Warum funktioniert das zu wenig?

Solzbacher: Wie so oft bei Reformen in der Bildungspolitik ist vieles über Appelle und Freiwilligkeit gegangen: Man sagt den Kollegien zunächst, was gemacht werden muss und drückt die Entwicklung dorthin den Einzelschulen aufs Auge. Es gibt nicht hinreichend qualitativ gute Fortbildungen und für diese zu wenig Zeit. Auch die mir bekannten Schulen hier im Siebengebirge wurden in der Hektik der Reformen aufgefordert: Entwickelt Euch. Dazu macht ein Schulprogramm und setzt das um. Nach kurzer Zeit kam die Inspektion der Schulaufsicht und erklärte: Vieles ist schlecht. Man hat den Schulen wenig Zeit und kaum Ressourcen gegeben, sich zu entwickeln. Zuerst war es die Individuelle Förderung, dann die Inklusion und die Ganztagsschule. Jetzt kommt noch die Digitalisierung hinzu. Zweifellos notwendige Reformen, aber viele Lehrkräfte haben das Gefühl, dass ständig eine neue Sau durchs Dorf getrieben wird. Sie kommen nicht mehr nach, sich dafür das Wissen anzueignen.

Ist Inklusion in NRW überstürzt eingeführt worden?

Solzbacher: Sie ist in allen Bundesländern eher im Hauruck-Verfahren eingeführt worden. Mit denkbar begrenzten Mitteln und mit Appellen an die „richtige“ Haltung von Lehrkräften, ohne deren Erfahrungswissen zu berücksichtigen. Das war dilettantisch, obwohl das in NRW gar nicht hätte sein müssen. Hätte man einen längerfristigen Plan gehabt, die hier sehr früh schon angedachte Individuelle Förderung nicht nur deshalb einzuführen, weil die Pisa-Ergebnisse nicht gestimmt haben, sondern erklärtermaßen auch um die UN-Charta mit der Aufforderung zur Inklusion zu erfüllen, hätte man die Lehrer auch mental mitgenommen. Individuelle Förderung und Inklusion sind zwei Seiten einer Medaille. Das eine geht nicht ohne das andere.

Wie betrachten Sie die Debatte um acht oder neun Jahre Gymnasium?

Solzbacher: Ich verstehe sie nicht, wenn es wirklich das Ziel gibt, Kinder individuell zu fördern. Wenn wir Strukturdebatten führen, dann müssen die doch einen pädagogischen Sinn haben. Es gibt Kinder, die kürzere Zeit brauchen und jene, die länger brauchen. Also müssen wir in vielen Bereichen über individuelle Lernzeiten nachdenken. Es gibt jetzt schon Schulen in NRW, die ihren Kindern offen halten, ob sie das Abitur in acht oder neun Jahren machen.

Könnten Sie sich in jeder Schule demnach G8 oder G9 vorstellen?

Solzbacher: Ja, aber das braucht Zeit. Von heute auf morgen geht das nicht. Schulen benötigen ein Konzept der Individuellen Förderung mit einer anderen Zusammenarbeit zwischen den Lehrkräften und mit anderen Bildungspartnern wie Sportvereinen, Betrieben oder Museen. Das schafft auch für die Eltern Transparenz, gerade wenn sie mitentscheiden sollen, ob ihr Kind acht oder neun Jahre braucht. Eltern stehen ja auch vor ungewohnten Herausforderungen, zum Beispiel wenn die Schule umstellt auf jahrgangsgemischte Klassen als Reaktion auf die immer größer werdende Vielfalt in der Schülerschaft. Besonders Grundschulkinder gleichen Alters weisen oft große Entwicklungsunterschiede auf.

Wie kann die Diskussion um G8/G9 denn zu einer sinnvollen werden?

Solzbacher: Nur dann, wenn die Verantwortlichen bereit sind, pädagogisch zu argumentieren und das Wohl der Kinder im Sinn haben. Aber solange Bildungspolitik fast das einzige Thema im Föderalismus ist, mit dem man Wahlkampf machen kann, solange wird es immer Leute geben, die Wahlkampf damit machen wollen.

Wie könnte die Schule der Zukunft aussehen?

Solzbacher: Der Versuch, die Reformen auf die Einzelschule abzuwälzen und in kürzester Zeit mit Inspektionen zu überprüfen, hat viele Lehrer flügellahm gemacht. Wir brauchen kluge Strategien, die auf längere Zeit und auf Verlässlichkeit angelegt sind und sich nicht mit jeder Landtagswahl ändern. Dafür müssen wir auch Geld in die Hand nehmen. Wir benötigen Arbeitszeitmodelle, in denen die Zeiten für Entwicklungsprozesse in der Schule – also Sitzungen zu Zielen, Maßnahmen oder Fortbildungen – eingeplant sind. Lehrer sein ist ein anspruchsvoller Ganztagsjob mit hohem Fortbildungsbedarf.

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