Spurensuche in Ostdeutschland So sieht die gesellschaftliche Lage in Sachsen aus

Jagd auf Ausländer in Chemnitz, rechte Demos und ein LKA-Mitarbeiter, der die Medien provoziert. Was ist los in Sachsen ein Jahr vor der Landtagswahl? Eine Bestandsaufnahme.

 Rechte Demonstranten stehen am Montag vor dem Karl-Marx-Monument in Chemnitz.

Rechte Demonstranten stehen am Montag vor dem Karl-Marx-Monument in Chemnitz.

Foto: dpa

Ein Syrer und ein Iraker sollen einen Deutschen in Chemnitz mit Messerstichen getötet haben. Die Hintergründe sind unklar, nichts ist bewiesen. Für einige Hundert Chemnitzer genügten Gerüchte, um sich über die sozialen Netzwerke zu versammeln und Jagd auf alle zu veranstalten, die wie Ausländer aussahen. Enthemmte Gewalt von Rechtsradikalen, vorwiegend Fußball-Hooligans. Dabei waren aber auch viele, die als „Wutbürger“ bekannt sind. Das Erschrecken über die Bluttat und die jahrelange Hetze gegen Ausländer führten Rechte und Rechtsradikale ohne Berührungsängste zusammen.

Es ist nicht das einzige Ereignis in Sachsen, das Sorgen bereitet. Am Wochenende trafen sich Hunderte Neurechte, die Identitären, zu ihrer bisher größten Veranstaltung, ausgerechnet in der Pegida-Hochburg Dresden. Und erst wenige Tage ist es her, dass ein LKA-Mitarbeiter mit Deutschland-Hut ein ZDF-Kamerateam anbrüllte und an der Arbeit hinderte. Die Polizei half ihm dabei. Das Video vom „Hutbürger“ wurde zum Internet-Hit, viele, sehr viele Sachsen schämten sich für diesen Typen, der sie zum Gespött des Landes werden ließ.

Was also ist los in Sachsen?

Zunächst kommt die offene Gewalt überraschend, sie erinnert an Szenen in Rostock und Hoyerswerda Anfang der 1990er Jahre. Rechtsradikale Ausschreitungen waren zuletzt eher zurückgegangen, rechtsradikale Parteien hatten an Einfluss verloren. Zugunsten der AfD allerdings. Sie hat die politische Landschaft gründlich aufgemischt. Zur Bundestagswahl vor einem Jahr wurde sie mit 27 Prozent stärkste Partei in Sachsen, der heutige Ministerpräsident Michael Kretschmer verlor seinen Wahlkreis gegen einen nahezu unbekannten Handwerksmeister von der AfD. Seither ist klar: In Sachsen, im gesamten Osten Deutschlands, braut sich was zusammen.

Die Sachsen sind frustriert

Nichts hat Sachsen seither mehr bewegt als die Frage, was so viele Menschen in die Arme der AfD treibt. In einer aufwendigen, repräsentativen Befragung im Auftrag der „Sächsischen Zeitung“ kam heraus: Die Sachsen sind frustriert. Fast die Hälfte glaubt, weniger oder viel weniger als den gerechten Anteil am Lebensstandard in Deutschland zu erhalten. Zwei von drei Sachsen fühlen sich als Bürger zweiter Klasse.

Besonders unzufrieden ist die ländliche Bevölkerung. Dort hatten sich seit der Wende die Dörfer geleert, heute fehlen Schulen, Arztstationen, Einkaufsmöglichkeiten. Die Einwohner fühlen sich abgehängt und vergessen. Aber der wichtigste Grund, die AfD zu wählen, ist für 77 Prozent die Flüchtlingspolitik. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung, nicht nur AfD-Wähler, erwartet da eine deutliche Veränderung. Der Unmut ist groß, dass sich scheinbar nicht viel tut, Radikalisierung eine Folge.

Immerhin ein positives Ergebnis zeigte die Umfrage: Ein großer Teil wünscht sich mehr Dialog. Seither tourt der sächsische Ministerpräsident beinahe täglich durchs Land und stellt sich Bürgerversammlungen. Er diskutiert über alle nur denkbaren Themen, von der Lehrerausstattung in den Schulen bis zur Polizeipräsenz auf den Straßen. Und immer wieder hört er: Lasst nicht so viele Flüchtlinge ins Land, schiebt abgelehnte Asylbewerber schneller ab, steckt das viele Geld lieber in Projekte, die für uns Deutsche wichtig sind. Die Bürgerversammlungen sind gut besucht, oft sind es Männer über 50, viele im Rentenalter. Viele AfD-Wähler darunter, die manchmal auch offen sagen, dass sie bisher CDU, SPD und sogar Linkspartei gewählt haben.

In diesen Versammlungen, in den Befragungen, auf der Straße oder bei Pegida werden die Sozialisierungsunterschiede zwischen West- und Ostdeutschland deutlich – und eine Tatsache, der sich die Sozialwissenschaft erst anzunehmen beginnt: Die Nähe der Ostdeutschen zu den Osteuropäern. Der Dresdner Bürgerrechtler und Theologe Frank Richter hat es so gesagt: „Ostdeutschland hat die Liberalisierung, die Amerikanisierung, die Pluralisierung nicht in demselben Maße erlebt wie der Westen, sondern hat politische, kulturelle, soziale, religiöse Traditionen, die Osteuropa sehr nahe sind. Dies ist aber kein Defizit, das ist eine Andersartigkeit.“

Kaum Kontakte zu Ausländern in der DDR

Im Prinzip ist sie das nicht. Zu den Gemeinsamkeiten gehört allerdings auch die fehlende Erfahrung im Umgang mit dem Fremden. Zwar wurde zu sozialistischen Zeiten überall im Osten Solidarität und Völkerfreundschaft propagiert, aber ganz praktisch, in der Nachbarschaft, nicht gelebt. Sowjetische Soldaten und ausländische Arbeitskräfte wohnten von der Bevölkerung getrennt, es gab kaum Kontakte. Deshalb machten die Ostdeutschen bei ihren ersten Besuchen im Westen zwei Erfahrungen fürs Leben: Ja, wie hier wollen wir leben. Und: Nein, Zustände wie in Neukölln oder in Duisburg-Marxloh kommen für uns nicht infrage.

Beide Erfahrungen wurden schockartig erlebt. Der Flüchtlingsansturm 2015 traf die Ostdeutschen dann völlig unvorbereitet. Viele meinten: Das schafft Deutschland nie. Und: Mein (neues) Land ist in Gefahr.

Allerdings ist es auch eine Tatsache, dass die Politik in Sachsen auf rechtsradikale Tendenzen in den 1990er Jahren falsch reagiert hat. Das Wort Kurt Biedenkopfs, seine Sachsen seien dagegen immun, ist Legende. Folglich blieben private Initiativen gegen den aufkommenden Extremismus ziemlich auf sich allein gestellt. Diese Tatenlosigkeit ist zwar längst als Fehler erkannt, die Einsicht kam allerdings sehr spät.

2019 wird ein ostdeutsches Superwahljahr. In mehreren neuen Bundesländern gibt es Kommunal- und/oder Landtagswahlen, am 1. September wird der sächsische Landtag gewählt. Es kann sein, dass die Wahlen ein politisches Beben auslösen. Die jüngste Wahlumfrage für Sachsen ergab, dass die CDU mit 32 Prozent zwar vorn liegt, die AfD aber immerhin 24 Prozent erhalten könnte, die Linke 19. Die SPD liegt bei neun Prozent, Grüne und FDP kämpfen mit der Fünf-Prozent-Hürde.

Damit reicht es nicht mehr für eine große Koalition, erste Gedankenspiele einer Koalition von CDU und Linkspartei geistern durchs Land. Aber es kann auch schlimmer kommen. Einem jüngst veröffentlichten Rechenmodell zufolge ist es möglich, dass die AfD einen erheblichen Teil der Direktmandate gewinnt und stärkste Fraktion im Landtag wird.

AfD-Anhänger im Bekanntenkreis oft in der Mehrheit

Diese Prognosen verunsichern die Politik, insbesondere die CDU. Die Landesregierung versucht es mit einer Mischung aus Bürgerdialog und Sofortprogrammen, um vor allem auf dem Land Probleme zu beseitigen, die sie mit jahrelanger Sparpolitik erst herbeigeführt hat. Die CDU sucht aber auch immer mal wieder die Nähe zu Horst Seehofer und der CSU. Sachsen ist das einzige Bundesland, das den Ankerzentren sofort zustimmte.

Verunsicherung ist aber auch bei jenen Sachsen zu spüren, die gegen AfD und Pegida eingestellt sind. In Leserbriefen dominieren oft rechte Stimmen. Die anderen halten sich zurück. Ein typisches Beispiel: Eine Leserin wendet sich an ihre Zeitung und lobt sie, mutig Standpunkte gegen AfD und Pegida zu beziehen, die ihr aus dem Herzen sprechen. Und dann kommt der Nachsatz: Bitte diesen Brief nicht veröffentlichen. In vielen Familien, in Freundeskreisen und unter Kollegen sind die AfD-Anhänger inzwischen in der Mehrheit, Widerspruch wird dort oft harsch abgewiesen, wenn nicht niedergebrüllt. Langjährige Beziehungen stehen auf dem Spiel.

Aber es gibt auch einen anderen Trend. Gerade die Geschichte mit dem „Hutbürger“ hat viele Sachsen zu deutlichen Stellungnahmen veranlasst, gegen Pegida und den Ausländerhass, für die Pressefreiheit, für eine bessere Ausbildung der Polizei. Die Demos gegen die Identitären waren mindestens genauso groß wie die der Rechten. Es entstehen neue Initiativen. Viele Sachsen unterstützen Flüchtlinge.

Ihre wichtigste Sorge in diesen Tagen ist, dass die Deutschen glauben, die Sachsen sind eben so. Braun und nicht ganz bei Trost. Nichts ist jetzt schlimmer für das Selbstbewusstsein.

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