Interview mit Frank-Walter Steinmeier "Merkel hat sich ins gemachte Bett gesetzt"

BONN · Der SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Frank-Walter Steinmeier, sprach beim Besuch der Redaktion des General-Anzeigers über das Verhalten der Bundeskanzlerin, die Lage seiner Partei und eine neue Agenda

 Frank-Walter Steinmeier beim Gespräch in der Redaktion des General-Anzeigers.

Frank-Walter Steinmeier beim Gespräch in der Redaktion des General-Anzeigers.

Foto: Horst Müller

Macht der Wahlkampf überhaupt noch Spaß?
Frank-Walter Steinmeier: Mir macht er Spaß. Ich bin froh, dass wir raus sind aus der Berliner Käseglocke und jetzt endlich unter Leuten. Es geht los. Das ist gut so.

Es geht los heißt: Es kann nur aufwärts gehen?
Steinmeier: Ich bin ganz sicher, dass es aufwärts geht. Und ich bin ebenso sicher, dass die Umfragen von heute nicht die Wahlergebnisse von morgen sind. Aber sie verbessern sich nicht von selbst, sondern dann, wenn die SPD in sich geschlossen ist und sie die Menschen bewegt, zur Wahl zu gehen.

Ist denn die SPD endlich geschlossen?
Steinmeier: Die SPD ist immer eine diskussionsfreudige Partei, und Gewitter an der Spitze sind nicht ausgeschlossen. Aber wenn?s denn mal gedonnert hat, ist es besprochen und bereinigt. Ich bin auch da ganz sicher: Wir ziehen in geschlossener Formation auf den 22. September zu.

Gibt's vorher noch dunkle Wolken?
Steinmeier: Die dunklen Wolken sind vertrieben.

Nur noch schönes Wetter?
Steinmeier: Wer nur noch schönes Wetter sucht, sollte nicht in die Politik gehen.

Wie erreicht man es, den noch nicht sozialdemokratischen Wähler zur Wahl der SPD zu mobilisieren?
Steinmeier: Ich bin fest davon überzeugt, dass die SPD mit dem richtigen Programm antritt. Viele Menschen haben zu Recht den Eindruck, dass die soziale Balance verloren zu gehen droht. Wir müssen dafür sorgen, dass diejenigen, die Arbeit haben, von dem Lohn für ihre Arbeit auch leben können. Wir müssen dafür sorgen, dass die, die ein langes Berufsleben hinter sich haben, auch eine angemessene Altersversorgung haben. Für beides steht die SPD. Für den Mindestlohn ebenso wie für die Solidarrente. Ich bin ganz sicher: Viele, die in den vergangenen Jahren nicht zur Wahl gegangen sind, werden wir an die Wahlurnen zurückbringen.

Wie erklären Sie sich, dass Frau Merkel so unangefochten, ruhig und souverän in Berlin regiert?
Steinmeier: Merkel hat sich ins gemachte Bett gesetzt.

In das von Gerhard Schröder...
Steinmeier:Die drängendsten Probleme - hohe Arbeitslosigkeit, kollabierende soziale Sicherungssysteme, Verkrustung auf den Arbeitsmärkten - hat die sozialdemokratisch geführte Regierung unter Gerhard Schröder beseitigt. Seitdem geht es wieder aufwärts in Deutschland. Wir haben zwei Millionen Arbeitslose weniger, die Steuereinnahmen steigen, und darauf ruht sich Frau Merkel aus. Nur: Das ist keine verantwortliche Politik für die Zukunft.

Die wäre?
Steinmeier: Aufgabe der Politik ist es, jetzt Vorsorge zu treffen, dass es uns auch in zehn Jahren noch gut geht. Das tut sie nicht. Keine einzige Weichenstellung, weder bei Rente noch bei Gesundheit noch bei Bildung. Gipfel über Gipfel, aber keine Entscheidungen. So kann und so darf man die größte Volkswirtschaft in Europa nicht regieren.

Braucht Deutschland also eine Agenda 2025?
Steinmeier: Wir brauchen eine neue, eine ganz andere Agenda. Denn die Probleme haben sich gewaltig verschoben. Vor zehn Jahren war große Arbeitslosigkeit das Hindernis für Wachstum, in zehn Jahren wird es das Gegenteil sein. Da wird aus dem Fehlen von Facharbeitskräften das Wachstumshindernis Nummer eins werden. Damit daraus keine wirtschaftliche Katastrophe entsteht, muss jetzt Politik gemacht werden. Bildung ist dafür der Schlüssel. Mehr Investitionen in Bildung! Kein Kind zurück lassen! Frühkindliche Betreuung statt einer Prämie, um die Kinder aus den Kindergärten fernzuhalten! Das ist der Kern einer neuen Agenda.

Gibt's die Gefahr, dass Wahlkampf ist und es keiner mitkriegt?
Steinmeier: Es ist erkennbar die Absicht der Union, die europäische Krise wie einen dicken Teppich über die ganze Innenpolitik zu ziehen, die Deutschen in ein Wachkoma zu reden. Das wird nicht gelingen. Dafür werden wir schon sorgen.

Der Bürger entscheidet sich immer später. Wie kann man seine Wahlentscheidung da noch beeinflussen?
Steinmeier: Ja, moderne Wahlkämpfe werden in immer weniger Wochen entschieden. Das ist nicht das, was wir beabsichtigen. Aber es zeigt, dass sich Wahlkampf bis zur letzten Minute lohnt.

Anders gefragt: Wird die Wahlentscheidung des Bürgers immer zufälliger?
Steinmeier: Ich sehe nicht die Zufälligkeit, aber ich sehe natürlich, dass Wahlverhalten beeinflusst ist durch die wirtschaftliche Lage und die ist heute kraft sozialdemokratischer Weichenstellungen deutlich besser als bei unseren Nachbarn. Merkel erntet, aber sie sät nicht. Sie ist dabei, den Reformvorsprung, den wir uns erkämpft haben, zu verspielen. Wir beginnen schon wieder, von der Substanz zu leben. Gewonnene Wettbewerbsfähigkeit gerät allein durch die völlig missratene Energiewende in Gefahr. Das ist nicht die Vorsorge für Zukunft, auf die die Menschen einen Anspruch haben.

Die SPD ist sowohl für die Agenda-Politik als auch für ihre Beteiligung an der großen Koalition abgestraft worden. Ist deshalb die große Koalition in der SPD nicht mehr vermittelbar?
Steinmeier: Die große Koalition sollte in einer parlamentarischen Demokratie die Ausnahme bleiben. Demokratie lebt vom lebendigen Wechsel. Aber in der Tat: Mit Blick auf die große Koalition von 2005 bis 2009 bleibt der Eindruck, dass die SPD die Leistungsträger in dieser Koalition gestellt hat, der Erfolg gerade auch bei der Bewältigung der Wirtschaftskrise 2008/2009 sich aber allein bei der Union eingestellt hat. Die Erinnerung daran bringt SPD-Mitglieder nicht dazu, sich diese Koalition zurückzuwünschen. Deshalb: Die große Koalition liegt hinter uns und nicht vor uns.

Dann doch lieber Rot-Rot-Grün oder für kurze Zeit eine Minderheitsregierung wie hier in Nordrhein-Westfalen?
Steinmeier: Ich kann mir eine Minderheitsregierung für den Bund mitten in der europäischen Krise mit anspruchsvollen Entscheidungen, die weiter auf uns zukommen werden, nicht vorstellen. Das schließe ich aus. Im Übrigen belassen wir es bei der Arbeitsteilung: Journalisten spekulieren über Koalitionen und wir kämpfen für eine starke SPD.

Anders herum wäre auch noch schöner...
Steinmeier: Wär aber auch nicht schlecht.

Die Union will auch für soziale Gerechtigkeit stehen. Nimmt Sie Ihnen damit Luft?
Steinmeier: Der Wähler lässt sich nicht hinter die Fichte führen. Dazu ist auch zu dreist, was die Union seit einigen Monaten treibt. Zunächst der Verzicht auf ein eigenes Wahlprogramm, dann Rosinenpickerei aus dem Wahlprogramm der SPD. Auch denen, die nicht jeden Tag General-Anzeiger lesen, dürfte aufgefallen sein: Das sind taktische Spielchen, aber das ist keine ernsthafte Politik. Nein, wer mehr soziale Gerechtigkeit will, wer Mindestlohn, wer ordentliche Renten, wer eine Bürgerversicherung haben will, der muss schon zum Original gehen und nicht zu den Plagiatoren.

Apropos Original: Ihr Kanzlerkandidat hat sich ja in letzter Zeit sehr originell verhalten. Ist die Parallelität zwischen Kandidat und Partei gesichert oder noch verbesserbar?
Steinmeier: Ich kenne Peer Steinbrück seit 20 Jahren und ich weiß: Auch in den Zeiten, in denen er als Wirtschafts- und Finanzminister gearbeitet hat, war er immer Sozialdemokrat und das mit ganzem Herzen. Die Verdächtigung, dass Peer Steinbrück keine ausreichende Nähe zum Programm oder zu große Distanz zur Partei zeige, verstehe ich nicht. Die Partei versammelt sich hinter ihm als Kanzlerkandidaten. Viele Tausend werden das demnächst auf den Großveranstaltungen erleben.

Johannes Rau strebte 1987 die absolute Mehrheit an, und Willy Brandt kommentierte das süffisant mit der Bemerkung, 43 Prozent wären auch schon schön. Was wäre dieses Jahr schön?
Steinmeier: (lacht) Unter 51 Prozent wollen wir nicht abschließen.

Anders gefragt: Wünschen Sie Steinbrück ein besseres Ergebnis als ihre 23 Prozent von 2009?
Steinmeier: Gemeine Frage. Es hätte so ein schöner Tag bleiben können. Positiv gewendet: Da ist noch viel Luft nach oben für die SPD. Vieles hängt davon ab, dass wir die Wähler mobilisieren können. Genau darauf werden wir unseren Wahlkampf zuschneiden. Noch mehr als früher werden wir den "Mundfunk" befördern, von Haustür zu Haustür gehen. Ich bin sicher: Da wird sich noch Entscheidendes verändern.

Wie oft haben Sie Ihrer Frau schon gesagt, dass Sie froh sind, nicht Kanzlerkandidat zu sein?
Steinmeier: Das ist schon lange kein Gesprächsthema mehr bei uns. Ich hadere nicht mit der Entscheidung. Es geht jetzt darum, dass Peer Steinbrück Kanzler wird. Dafür kämpfe ich mit aller Kraft. Oder wie Franz Müntefering sagen würde: Mit heißem Herzen und kühlem Verstand.

Zur Person

Frank-Walter Steinmeier, 1956 in Detmold geboren, studierte Jura und Politik in Gießen, machte dort auch beide juristische Staatsexamina und seinen Doktor. Anfang der 90er Jahre begann seine politische Karriere an der Seite von Gerhard Schröder, zunächst als dessen Büroleiter in Hannover, von 1999 bis 2005 als Chef des Bundeskanzleramtes unter Schröder.

In der großen Koalition von 2005 bis 2009 war Steinmeier Außenminister. Nach der für die SPD verlorenen Bundestagswahl 2009, die er als Kanzlerkandidat bestritt, übernahm Steinmeier das Amt des Vorsitzenden der Bundestagsfraktion. Steinmeier ist verheiratet mit Elke Büdenbender, der er vor drei Jahren eine seiner Nieren spendete.

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