Bundesregierung Mensch Merkel

Am Sonntag feiert die Kanzlerin ihr Zehnjähriges. Nein, sie feiert nicht. Sie kämpft - auch um ihre Reputation. Wie damals, als sie ins Amt kam

 Zehn Farbakzente in zehn Neujahrsansprachen: Angela Merkel spricht den Deutschen Mut und Zuversicht zu.

Zehn Farbakzente in zehn Neujahrsansprachen: Angela Merkel spricht den Deutschen Mut und Zuversicht zu.

Foto: DPA

Es ist der 18. September 2005, der Abend der Bundestagswahl. Ein völlig aus der Fassung geratener Noch-Bundeskanzler Gerhard Schröder will den Amtsverlust nicht wahrhaben. Der SPD-Politiker blafft Angela Merkel an: "Sie können keine Regierung bilden." Die CDU-Vorsitzende weiß es besser, bleibt äußerlich gelassen, obwohl sie vom Wahlergebnis verunsichert ist: Union: nur 35,2 Prozent, SPD fast gleichauf: 34,2 Prozent.

Das also ist er - der bescheidene Anfang einer zehnjährigen Kanzlerschaft, die offiziell mit der Vereidigung am 22. November 2005 startet. Eine Kanzlerschaft, die Angela Merkel in höchste Höhen und jetzt in die größte Krise ihrer Amtszeit geführt hat.

Zur mächtigsten Frau der Welt wird sie vom Wirtschaftsmagazin Forbes seit Jahren in Serie erklärt, und in der Liste der mächtigsten Menschen der Welt rangiert sie in diesem Jahr auf Platz zwei, vor Barack Obama und dem Papst und hinter Wladimir Putin (den sie besser kennt als jeder andere westliche Politiker und dem sie klarer als alle anderen in der Ukraine-Krise Paroli bietet).

Merkel auf dem Zenit ihrer Macht? Das war vor einem halben Jahr. Spitzenplatz aller Umfragen. Bis dahin dauerhaft.

Dann kamen die Flüchtlinge

Und seitdem ist vieles anders.

Was dabei vergessen wird: Auch vorher, vor ihrer Kanzlerschaft, war schon mal einiges anders. Die Angela Merkel der ersten Jahre ihres Parteivorsitzes (sie löst im April 2000 Wolfgang Schäuble ab, der wie zuvor Helmut Kohl in der Spendenaffäre versinkt) versucht sich an einer "neuen sozialen Marktwirtschaft". Das riecht stark nach FDP, da ist viel von Eigenverantwortung und wenig von Staat die Rede.

Die Folge ist jenes enttäuschende Wahlergebnis, das Merkel 2005 dennoch ins Kanzleramt bringt. Seitdem ist Vorsicht die Mutter der Porzellankiste. Damals entsteht das Bild einer Kanzlerin, die abwartet, statt zu führen. Ein Bild, das sich in dem Begriff "merkeln" verdichtet, der es in diesem Jahr immerhin in die Top Ten der Auswahl zum Jugendwort des Jahres schafft. Merkeln, abwarten, nichts tun.

Dieser Ruf der Kanzlerin hat viel mit ihrem früheren Mentor Helmut Kohl zu tun, von dem sie die Partei zum Jahreswechsel 2000 in einem dramatischen Schritt befreit: "Die Partei muss sich zutrauen, in Zukunft auch ohne ihr altes Schlachtross ... den Kampf ... aufzunehmen ... Sie muss sich wie jemand in der Pubertät von zu Hause lösen."

Von Kohl, der "das Mädel" erst 1990 kennenlernt - und es, nach kurzer Parkposition als Ministerialrätin im Bundespresseamt - schon wenige Monate später zur Ministerin macht, hat sie mindestens zweierlei gelernt: Zum einen, wie man Konkurrenten wegbeißt (zunächst vor allem Friedrich Merz) und sich damit Unabhängigkeit bewahrt, zum anderen eben die These, dass entscheidend ist, was am Ende herauskommt. Merkels Version dieses Kohlschen Bonmots lautet in der aktuellen Fassung: "Wir schaffen das."

Zunächst allerdings schafft Merkel wenig. Die ersten Jahre der großen Koalition unter ihrer Führung läppern sich so dahin, bis die erste große Krise kommt: die Bankenkrise nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers etc. Merkel beginnt - im Verein mit Peer Steinbrück - zu großer Form aufzulaufen. Auch wenn sie keinen Plan hat. "Wir fahren derzeit alle auf Sicht" lautet das Motto in dieser Krise - meist herrscht dichter Nebel.

Und wieder kommt die Krise

Mitten in dieser Krise gelingt es der Einser-Abiturientin (besondere Stärken: Russisch und Mathematik), bei der Bundestagswahl 2009 die SPD abzuschütteln und eine schwarz-gelbe Koalition aus der Taufe zu heben, in der die FDP an der großen Steuerreform und am Reformunwillen Merkels scheitert, kaum dass sie begonnen hat. Keine Spur mehr vom ungestümen Willen der CDU-Vorsitzenden, vieles umzukrempeln.

Und wieder kommt eine Krise: diesmal die Euro- und Griechenlandkrise. Es formt sich ein neues Merkel-Bild, vor allem im betroffenen Ausland. Das Bild einer zweiten eisernen Lady, Margaret Thatcher auf germanisch gewissermaßen. Merkel fordert harte Gegenleistungen für Griechenlands Rettung und wird dort zur verhassten Politikerin. Der Plan, mit dem sie vorgeht, bleibt jedoch wie in der Bankenkrise vage. Auch hier gilt: Politik als Segeln auf Sicht. Wind gibt es genug. Aus allen Richtungen.

Die an ihren vollmundigen Versprechungen gescheiterte FDP fliegt bei der Bundestagswahl 2013 aus dem Parlament, und Merkel besorgt sich den neuen alten Partner: die SPD. Mit ihr betreibt sie nun zusehends das Gegenteil ihrer früheren Politikvorstellungen. Rentenzuschlag für Mütter, Mindestlohn, Frauenquote - der Staat hilft und heilt, die Eigenverantwortung kann ruhen. Sozialdemokratisierung heißt das Stichwort. Merkel wildert erfolgreich in sozialdemokratischer Programmatik, trocknet damit die SPD, ohnehin angeschlagen durch Schröders Agenda 2010, immer mehr aus.

Die Wehrpflicht verschwindet (mit ihr auch CSU-Shootingstar Karl Theodor zu Guttenberg, wegen Plagiat), und die eben erst verlängerte Laufzeit der Kernkraftwerke wird nach der Katastrophe von Fukushima flugs in den Ausstieg aus der Atomkraft umgewandelt. Auch dessen Betreiber Norbert Röttgen wird dabei Opfer dieses Prozesses und der Merkelschen Machtzementierung. Mit dem Atomausstieg steht Deutschland in Europa übrigens allein da - wie zwei Jahre später mit Merkels Flüchtlingspolitik.

Man hat ja Merkel

Bis dahin lässt die Partei alles mit sich machen - Parteiprogramme, Regierungserklärungen hin oder her. Man hat ja Merkel. Aus dem "Mädel" ist längst "Mutti" geworden. Sie ist das personifizierte Vertrauen, lotst das Land im Urteil seiner Bürger sicher durch alle Krisen.

In einem emotionalen Moment öffnet die Kanzlerin die Grenze für die Flüchtlinge, die in Ungarn ausharren. Zu prägend ist für die ostdeutsche Pfarrerstochter mit einem polnischstämmigen Großvater, dass es Ungarn war, das ein Vierteljahrhundert zuvor als erstes Land den Grenzzaun durchschnitt - was letztlich zur deutschen Einheit führte.

Das Resultat: Hunderttausende von zusätzlichen Flüchtlingen, eine ungeheure Welle der Hilfsbereitschaft im Land - und zum ersten Mal viel, viel Gegenwind in der Partei. Merkel explodiert: "Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land." Dafür erhält sie Beifall, aber nicht in ihrer Partei. Die Stimmung an der Basis lautet in der optimistischen Fassung: "Wir schaffen das, wenn überhaupt, mit Ach und Krach."

Im Spätsommer schreiben CDU-Kreisverbände und -Funktionäre Protestbriefe, die Umfragen gehen in den Keller (auch wenn Union und Merkel immer noch Werte erreichen, über die die SPD jubeln würde). Zwei zentrale Minister ihres Kabinetts, Thomas de Maizière und Wolfgang Schäuble, üben sich in offenem Widerspruch und bösen Bildern.

Der Innenminister macht plötzlich Flüchtlingspolitik auf eigene Faust (und kanalisiert damit ein wenig den Unmut der Partei). Der Finanzminister macht Merkel zur unvorsichtigen Skifahrerin, die eine Lawine losgetreten habe. Eben noch Königin EU-Europas (kein Regierungschef amtiert länger) und unumstrittene Herrscherin der Union, ist sie plötzlich in der Defensive, wird in der EU sogar zur Bittstellerin: Gebt uns Quote! Monate vorher undenkbar. Die "neue Merkel" (Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte) will kämpfen und sagt das auch.

Auf dem Höhepunkt der Fluchtwelle dann die Terroranschläge von Paris. Damit hat auch die Regierungschefin die nächste Krise ereilt. Die fünfte große in ihrer Amtszeit. Sie spricht kurz vor den Attentaten plötzlich in der dritten Form über sich: "Die Bundeskanzlerin hat die Lage im Griff." Das klingt wie das Pfeifen im Wald. "Wir schaffen das?" Das Ende ist offen, nach den Attentaten erst recht.

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