SPD-Kanzlerkandidatur Martin Schulz, der Mutmacher

Berlin · Martin Schulz beschwört bei seiner ersten Rede als Kanzlerkandidat die Chance, nächster Bundeskanzler zu werden.

Das eigene Manko, das vermeintliche, kann auch eine Stärke sein. Man muss es nur dahin deuten, es vor allem erklären können, selbstbewusst zur eigenen Biografie zu stehen. In der SPD hat es noch nie geschadet, beispielsweise Sohn einfacher Leute zu sein („Meine Mutter war Hausfrau, mein Vater Polizist“), kein Abitur und folglich auch kein Studium zu haben. Alle drei Dinge treffen auf Martin Schulz zu.

Gleich wird Schulz seine Würselen-Story erzählen. Es ist die Geschichte eines Mannes, der talentiert als Fußballer wegen einer Verletzung den großen Traum aufgeben musste, darüber „die Orientierung verloren“ habe, wie Schulz seine frühere Alkoholsucht umschreibt, aber dann doch wieder auf die Beine gekommen sei. Solche Geschichten mögen sie in der SPD: Großes Ziel haben, scheitern, wieder aufstehen, weiter kämpfen, dafür ein anderes großes Ziel erreichen. Es sind jene Geschichten, aus denen, wenn sich die Dinge fügen, SPD-Kanzlerkandidaten gemacht werden.

Gerade noch hat ihn der SPD-Vorstand einstimmig zum Kanzlerkandidaten ausgerufen. Schulz, 61 Jahre alt, ist jetzt jener Mann, der Angela Merkel nach der Bundestagswahl am 24. September möglichst als Bundeskanzler ablösen soll. Am 19. März soll ihn ein SPD-Sonderparteitag auch zum neuen Parteivorsitzenden küren. Zur Präsentation des Kanzlerkandidaten stellt Noch-SPD-Chef Sigmar Gabriel klar: „Sozialdemokratischer als Deine Biografie geht's nicht.“

Das Willy-Brandt-Haus ist mit 600 Besuchern bestens gefüllt. Die SPD hat für Schulz' erste Rede als Kanzlerkandidat das Haus bewusst für die Bevölkerung geöffnet. Townhall-Format. Die Menschen stehen auch in den oberen Stockwerken und im Treppenhaus, als Schulz um 13.20 Uhr an das Mikrofon im Foyer tritt. Links von ihm mahnt zeitlos die überlebensgroße Skulptur von Übervater Willy Brandt. Auf der großen Leinwand steht: „Zeit für mehr Gerechtigkeit. Zeit für Martin Schulz.“

Gabriel und Schulz. Zwei Freunde. Der eine (Gabriel) geht, weil er nach eigenen Worten erkannt hat, dass er für die SPD jene Mehrheit nicht holen kann, die nötig wäre, um die Zeit der Bundeskanzlerin Merkel zu beenden. Der andere (Schulz) übernimmt und betont: „Lieber Sigmar, dass Du mein Freund bist, darüber bin ich sehr froh. (...) Du bist ein toller Typ.“ Vorher hat Gabriel noch davon gesprochen, dass Deutschland einen „neuen Aufbruch“ brauche, weil es mit dieser Union von CDU und CSU einfach nicht weitergehe.

Schulz meldet an diesem Januarsonntag den Anspruch an, am Abend des 24. September eine bessere Perspektive zu haben, als wieder nur Juniorpartner einer nächsten großen Koalition zu sein. „Es geht ein Ruck durch die SPD. Es geht ein Ruck durch das ganze Land. Wir wollen und werden diese Aufbruchstimmung nutzen.“

Schulz listet die Verdienste der SPD-Mitglieder im Bundeskabinett auf. Er nennt alle neun aktuellen SPD-Ministerpräsidenten namentlich. In 13 von 16 Bundesländern regierten Sozialdemokraten. Dies sei „eine gute Basis für unseren Wahlsieg im September“. Die SPD trete mit dem Anspruch an, bei der Bundestagswahl stärkste politische Kraft zu werden. Ein hoher Anspruch. Doch kann Schulz für sich verbuchen, dass seit Bekanntwerden seiner Kanzlerkandidatur in der vergangenen Woche die SPD 700 Neueintritte melden durfte und die Zustimmung für seine Partei in einer jüngsten Umfrage von 21 auf 24 Prozent stieg. Einer aber muss die Partei an vorderster Front in die erhoffte Siegerposition erst noch bringen: der Kanzlerkandidat. Schulz: „Und ich trete mit dem Anspruch an, Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden!“

Der Kandidat ist dann wieder bei seiner Biografie. Manche hielten ihm vor: „Der Schulz ist ein Europapolitiker. Der hat doch gar keine Ahnung von den deutschen Themen.“ Aber bitte, er sei elf Jahre Bürgermeister seiner Heimatstadt Würselen gewesen. Da wisse man, was beim Arbeits- oder Sozialamt, im Sportverein, bei der Freiwilligen Feuerwehr oder bei Mittelständlern los sei. Ja, ein Mann der Provinz. Ein Makel? Mitnichten.

„Ich schäme mich nicht, dass ich aus Würselen komme, einer kleinen Stadt in Nordrhein-Westfalen.“ Ein Bundeskanzler müsse „für die Alltagssorgen, für die Hoffnungen wie für die Ängste aller Menschen nicht nur Verständnis, sondern tiefe Empathie empfinden. Sonst ist er fehl am Platz“. Diese Karte also will Schulz gegen Merkel spielen: Der mitfühlende Kümmerer gegen die kühl wirkende Mechanikerin der Macht.

Dazu will der frisch ausgerufene Kanzlerkandidat die quasi natürliche Zuständigkeit der SPD für soziale Gerechtigkeit schärfen. In Zeiten, in denen „wütender Nationalismus“ die Gesellschaft polarisiere, sei die Sozialdemokratie gefragt: „Die Gesellschaft zusammenführen, das ist die Kernkompetenz der SPD.“ Schulz will vor allem das tun, was er auf dem Fußballplatz gelernt hat: kämpfen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort