GA-Interview Jürgen Trittin: "Vielleicht sind wir ja hemmungslos liberal"

Bonn · Grünen-Spitzenkandidat Jürgen Trittin spricht im Interview mit dem General-Anzeiger über Koalitionsoptionen, die Griechenlandhilfe und den Tag nach der Wahl. Selbstbewusst, ohne äußeren Zweifel, dass es am Wahltag doch noch eine Chance für Rot-Grün gibt - so präsentierte sich Grünen-Spitzenkandidat Jürgen Trittin im GA. Mit ihm sprachen Ulrich Lüke, Sandro Schmidt und Andreas Tyrock.

Herr Trittin, wie soll das noch was werden am 22. September?
Trittin: Wir setzen auf Mobilisierung. Am Ende wählen die Bürger Parteien, nicht Personen. Und die Wahlen werden darüber entschieden, wer wählen geht. Deshalb wollen wir unsere Leute mobilisieren. Diese Strategie fährt die Kanzlerin nicht. Im Gegenteil: Sie setzt auf eine möglichst niedrige Wahlbeteiligung. Sie nennt das asymmetrische Demobilisierung. Das heißt: Bleibt ein CDUler zu Hause, ist das nicht so schlimm, wenn gleichzeitig zwei SPDler nicht wählen gehen. Das ist undemokratisch.

Verzweifeln Sie nicht wöchentlich aufs Neue an der SPD und ihrem Kandidaten?
Trittin: Wir machen unseren Wahlkampf, die Mitkonkurrenten, also auch die SPD, machen ihren. Wir wollen sechs Millionen Wähler mobilisieren. Wir führen keinen Koalitionswahlkampf. Aber wir wissen natürlich, mit wem wir was durchsetzen können. Wenn Sie etwa das Betreuungsgeld abschaffen und bessere Kinderbetreuung durchsetzen wollen, dann können Sie das nicht mit der CSU machen.

Wäre es nicht langsam an der Zeit, das Tabu von Rot-Rot-Grün auf Bundesebene zu brechen?
Trittin: Es geht ja nicht um Tabus. Ich rede mit allen, aber ich sage auch klar, wo was zusammengeht und wo nicht. Klar ist, die Linkspartei kann und will nicht regieren. Die lehnen ja sogar Blauhelmeinsätze im Sudan ab. Paul Schäfer, hier aus Bonn, der das alles mitgetragen hätte, haben sie nicht wieder aufgestellt. Oder: Wolfgang Schäuble hat ja ungewollt die Wahrheit über notwendige Griechenland-Hilfen gesagt. Die Linkspartei sagt kategorisch Nein und will Griechenland in den Staatsbankrott schicken. Das ist unverantwortlich, wir können die Griechen nicht bankrott gehen lassen.

Hannelore Kraft war doch ganz erfolgreich im Benutzen der Linken als Steigbügelhalter...
Trittin: Nein, und das ist noch ein zusätzliches Argument gegen die Linkspartei. Sie hat faktisch Rot-Grün in NRW gestürzt, indem sie sich mit CDU und FDP verbündet hat - auch wenn das letztlich nicht zu ihrem Nutzen war. Auf solche Erfahrungen bin ich im Bund nicht scharf. Ich habe keine Neigung, mich auf Menschen zu verlassen, die sich bei der ersten Gelegenheit mit der politischen Rechten verbünden.

Könnten Sie sich gegebenenfalls nicht doch auf die Union verlassen?
Trittin: Gegenfrage: Glauben Sie, Herr Seehofer schafft das Einzige, was er in dieser Legislatur durchgesetzt hat, das Betreuungsgeld, wieder ab? Glauben Sie, die Union fährt die Subventionitis für die Hotellerie wieder zurück? Glauben Sie, sie würde Normal- und Geringverdiener steuerlich entlasten, ohne neue Schulden zu machen? Sie würde die oberen zehn Prozent der Steuerzahler belasten, um die anderen 90 Prozent zu entlasten, so wie wir das wollen? Ich glaube das alles nicht. Da überschätzen Sie die Flexibilität der Union.

Da hat sich seit 2009 also was auseinanderentwickelt?
Trittin: Die Grünen sind heute - trotz ihrer geringeren Größe - der politische Gegenpol zur Union.

Die Union betreibt jetzt den Ausstieg aus der Kernenergie...
Trittin: Nach der letzten Wahl hat Merkel erst mal die Laufzeit der Kernkraftwerke verlängert. Dann kam die Katastrophe von Fukushima. Eine Katastrophe übrigens, die bis heute anhält - tonnenweise läuft radioaktives Wasser in den Pazifik. Und weil es in Deutschland so eine starke Anti-Atom-Bewegung gibt, in anderen Ländern nicht, hat man die Konsequenzen daraus gezogen. Wir haben die Union gezwungen, das Gegenteil von dem zu machen, was sie versprochen hatte, und sie musste die Laufzeitverlängerungen für AKW wieder zurücknehmen.

Im Wahlkampf macht sich die Öko-Partei diesmal stark fürs Soziale, für Gerechtigkeit. Gehen Ihnen die Themen aus?
Trittin: Nein, beim Mitgliederentscheid sind drei Themen ganz vorne gelandet: 100 Prozent erneuerbare Energien, der Kampf gegen die Massentierhaltung und die Kita-Betreuung. Fragt man die Bürger insgesamt, interessieren sie soziale Gerechtigkeit, Energiewende und eine sichere Rente. Für die Grünen-Wähler stehen Energiewende und soziale Gerechtigkeit ganz oben, das waren und sind unsere Themen, und es sind die Themen, die von den Bürgerinnen und Bürgern als wahlentscheidend genannt werden.

Aber die Wende läuft doch. Windpark für Windpark öffnet...
Trittin: Von wegen. Die jetzige Regierung schafft es noch nicht mal, Off-Shore-Windparks ans Netz zu bringen. Die müssen mit Diesel gedreht werden damit sie nicht rosten, weil Merkel und Rösler beim Netzausbau versagt haben. Sie haben jahrelang tatenlos zugeschaut, wie unterkapitalisierte Netzbetreiber mit einem maroden Netz Geld verdienen, aber nicht investieren.

Aber in Borkum...
Trittin: Wir haben einen Windpark vor Borkum, den ich als Umweltminister Anfang des Jahrhunderts genehmigt habe, der immer noch nicht am Netz ist. Herr Rösler schwadroniert als Grund von irgendwelchen Bürgerinitiativen. Da gibt's aber keine, da gibt's nur Wattwürmer. Nein, das ist ein weiterer Beleg, dass die Merkel-Regierung die Energiewende willentlich gegen die Wand fährt.

Nochmal zu den Prioritäten: Warum geben sich ausgerechnet die Grünen sozial?
Trittin: Das ist nichts Neues, unser Gründungsmotto 1980 war bereits: "Ökologisch - Sozial - Basisdemokratisch - Gewaltfrei". Die soziale Ungerechtigkeit in diesem Land regt die Leute zurecht auf: Die Ausbeutung von Scheinselbstständigen, die Millionen Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten, die verfallende Infrastruktur, der Missstand, dass in manchen Städten die sanierungsbedürftigsten Gebäude Schulen oder deren Turnhallen sind. Wir stehen für Chancengleichheit und Verteilungsgerechtigkeit.

Glauben Sie, dass deshalb Ihre Steuererhöhungspläne goutiert werden?
Trittin: Entscheidend ist doch, wofür wir das Geld ausgeben. Zehn Milliarden stecken wir in zusätzliche Bildung, drei Milliarden ins Energiesparen. Und wir sagen eben, wie wir's finanzieren. Wir schmelzen unter anderem die Subventionierung großer Geländewagen ab, indem wir Verbrauchs- und CO2 Obergrenzen für die Absetzbarkeit von Dienstwagen einführen. Das bringt mehr als alle Veränderungen bei der Einkommensteuer. Wir schaffen das Betreuungsgeld wieder ab. Wir werfen nicht länger mehrere Milliarden Euro für sogenannte "Aufstocker" aus dem Fenster, sondern schaffen einen gesetzlichen Mindestlohn.

Das kostet Milliarden...
Trittin: Nein. Ausgabenkürzung und Subventionsabbau bringen Milliarden und sie vermeiden neue Schulden, die die künftigen Generationen bezahlen müssen. Unter Frau Merkel ist die Verschuldung um 500 Milliarden angewachsen.

Glauben Sie wirklich, dass die Forderung nach höheren Steuern die Bürger zu den Grünen lockt?
Trittin: 90 Prozent der Bürger werden mit der grünen Steuerpolitik entlastet. Die können wegen unseres Steuerkonzepts in die Hände klatschen.

Und nachher geht das Geld doch nach Griechenland oder Spanien.
Trittin: Sie fallen auf die Propaganda von Leuten wie Volker Kauder herein, der die faulen Griechen beschimpft. Diese Bundesregierung hat das Misstrauen der Bürger extrem angestachelt. Bei der letzten Wahl hieß es: Griechenland braucht keine Hilfe. Dann gab es sie. Dieses Spiel betreibt Merkel jetzt wieder, denn sie verschleiert, was auf die Steuerzahler zukommt. Und diesmal wird's teurer, denn es wird nicht um Bürgschaften gehen, sondern um echte Geldflüsse. Und je später man gegensteuert, desto wahrscheinlicher wird übrigens der Schuldenschnitt.

Das Geld fließt über die EU...
Trittin: Ja, so wird es schöngeredet. Und verschwiegen wird, dass Deutschland davon fast ein Viertel zahlt. Die Regierung macht den Bürgern weis, es gäbe keine Transferunion. Es gibt sie seit Jahrzehnten. Die Rettung der Krisenstaaten ist im ureigensten Interesse Deutschlands, denn wir leben vom Export in unsere Nachbarstaaten. Und diese Staaten sind als Folge einer Bankenkrise in die Schuldenfalle geraten. Euro-Rettung ist der Preis, den uns Europa wert sein sollte.

Haben Sie eine Vorstellung von der Dimension?
Trittin: Klar ist nur, dass es teurer wird, je länger man wartet. Also sollte man jetzt etwas tun.

Vor ein paar Monaten hätte man noch gesagt: Die Eurokrise entscheidet die Wahl. Was entscheidet sie jetzt?
Trittin: Sie wird - neben der Mobilisierung - entschieden an den Fragen der Gerechtigkeit und der Energiewende. Und an der Frage der Glaubwürdigkeit. Das eigentlich Gefährliche an der Haltung von Frau Merkel ist ja, dass sie aus Angst vor der eurokritischen Alternative für Deutschland - und Zehntausende Unionsanhänger denken wie die rechten Eurofeinde - die Griechenland-Debatte vermeiden will. Fliegt das auf, wird es ihr schaden. Weil viele sagen: Wollen wir wirklich von Leuten regiert werden, die uns permanent hinter die Fichte führen?

Anderes Thema: Plötzlich wollen die Grünen einen vegetarischen Tag einführen. Was soll das denn?
Trittin: Es geht um den Skandal der Massentierhaltung. Der massenhafte Fleischkonsum verursacht rund 18 Prozent der weltweiten Treibhausgase, führt zu Tierleiden und zu Niedriglöhnen in der fleischverarbeitenden Industrie. Wir wollen das Doping im Stall beenden. Wir wollen die Genehmigung neuer Großställe verhindern. Da ist ein fleischloses Angebot in öffentlichen Kantinen ein kleiner Beitrag.

Werden die Grünen nicht immer mehr zur Verbots- und Einmischungspartei?
Trittin: Ja, was denn nun? Die Junge Union wirft uns gleichzeitig vor, alles verbieten zu wollen, aber auch, dass es in der Schule keine Noten und keine Sitzenbleiber mehr geben soll. Sind das Verbote? Oder die Freigabe von Cannabis? Vielleicht sind wir ja hemmungslos liberal...

Noch mal: Gibt´s eine Chance gegen Merkel?
Trittin: Kanzler sind in Deutschland immer populär. Aber Popularität schützt nicht vor Abwahl. Denn am populärsten finden Deutsche ihre Kanzler, wenn sie im Ruhestand sind. Noch mal: Programme entscheiden die Wahl, nicht Personen.

Glauben Sie das wirklich?
Trittin: Merkel ist zweimal Kanzlerin geworden mit den zweitschlechtesten Ergebnissen in der Geschichte der Union. Wiederholt sich das, ist sie weg. Sie muss absolut und relativ zulegen. Die bisherigen Landtagswahlen sprechen dagegen.

Was machen Sie nach dem 22. September?
Trittin: Da leg ich mit Peer Steinbrück die Termine für die rot-grünen Koalitionsverhandlungen fest.

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