Interview zum Corona-Ausbruch bei Tönnies „Der Handel trägt eine Mitschuld“

Interview | Düsseldorf · Nach dem Corona-Ausbruch beim Fleischkonzern Tönnies in Gütersloh steigt der Druck auf die Industrie. Ursula Heinen-Esser, die zuständigen NRW-Ministerin, spricht im Interview über billige Preise in der Branche.

 Massenware Fleisch: Schweinehälften hängen in einem Kühlraum eines Fleischverarbeitungsbetriebs.

Massenware Fleisch: Schweinehälften hängen in einem Kühlraum eines Fleischverarbeitungsbetriebs.

Foto: dpa/Jens Büttner

Nach dem Corona-Ausbruch beim Fleischkonzern Tönnies steigt der Druck auf die Fleisch-Branche. Ursula Heinen-Esser, die zuständigen NRW-Ministerin, spricht im Interview über billige Preise in der Branche.

Welche Lehren ziehen Sie aus den Covid-Ausbrüchen in der Fleischindustrie?

Heinen-Esser: Dies hat mit Sicherheit etwas mit den Arbeitsbedingungen in den Schlachtbetrieben zu tun. Hier sind ja schon Maßnahmen zur Verbesserung des Arbeitsschutzes und zur Abschaffung der Werkverträge in Angriff genommen worden. Aber: Wir müssen auch die Kette der Fleischerzeugung und des Konsums neu denken – vom Stall bis zum Teller. Selbstverständlich gehen Veränderungen nicht von heute auf morgen. Aber die aktuelle Debatte um die Situation in den Schlachtbetrieben kann einen entscheidenden Anstoß geben, hier einen neuen Gesellschaftsvertrag zu schließen.

Muss man die Marktkonzentration aufbrechen?

Heinen-Esser: Marktkonzentrationen sind sicher ein Problem. Entscheidend ist, dass wir die Rahmenbedingungen so gestalten, dass eine hohe Lebensmittelsicherheit ebenso gewährleistet wird wie hohe Tierschutz-, Sozial- und Arbeitsstandards. Das gilt in Nordrhein-Westfalen insbesondere für die 35 großen Schlachtbetriebe.

Und wo beginnt man?

Heinen-Esser: Zum Beispiel beim Einzelhandel. Einer der großen Discounter hat jetzt Preissenkungen angekündigt, die deutlich mehr ausmachen als die Mehrwertsteuersenkung. Und der Druck geht dann über die Verarbeitung auf die Landwirte zurück.

Hat der Handel den Verbraucher zu den niedrigen Preisen erzogen?

Heinen-Esser: So kann man das wohl sagen. Er trägt eine ordentliche Mitschuld an der herrschenden Situation. Werbeslogans wie „Geiz ist geil“ haben vorgegaukelt, dass  Top-Qualität zum Schnäppchenpreis zu haben ist. Aber mehr Umwelt- und Tierschutz und gute Bedingungen für die Angestellten gibt es nicht zum Nulltarif. In anderen Ländern gibt es fairere Preise und eine höhere Wertschätzung. Wir werden deshalb versuchen, haarsträubende Sonderaktionen mit einer Initiative zur Änderung des Gesetzes gegen unlauteren Wettbewerb einen Riegel vorschieben. Grundsätzlich ist der Verkauf unter Einstandspreis ja bereits untersagt, doch kann dies zu leicht unterlaufen werden. Wir brauchen eine klare Definition des Einstandspreises. Lebensmittel benötigen faire Preise, das heißt, die ihren Preis wert sind und nicht billig. Verkaufspreise unterhalb des Einstiegspreises müssen der absolute Ausnahmefall sein.

Gesundheitsminister Laumann hat jüngst den Druck beschrieben, den die Fleischwirtschaft auf die Politik ausübt. Wörtlich hat er gesagt: „Sie glauben gar nicht, wessen Nummer Herr Tönnies alles in der Tasche hat.“ Sind Sie auch schon angerufen worden?

Heinen-Esser: Aktuell nicht. Und die Frage ist doch, welches Druckmittel da sein soll. Alles ins Ausland verlagern, können die Unternehmen so einfach nicht. Zudem gibt es innerhalb der EU Mindeststandards. Verlagerung würde zu enormen Steigerungen bei den Transportkosten führen und die Tiere zusätzlichen Strapazen aussetzen. Bei langen Tiertransporten müssten alle Tiere zwischendurch wieder entladen und versorgt werden. Es macht Sinn, dass die Unternehmen in der Nähe der landwirtschaftlichen Betriebe sind.

 NRW-Landwirtschaftsministerin Ursula Heinen-Esser.

NRW-Landwirtschaftsministerin Ursula Heinen-Esser.

Foto: picture alliance/dpa/Henning Kaiser

Wie lässt sich das Tierwohl verbessern?

Heinen-Esser: Wir brauchen andere Ställe mit mehr Platz für die Tiere. Soll ein Schwein den ganzen Tag in einer Box stehen oder kann es sich frei bewegen? Die Landwirtschaftskammer baut gerade zwei Musterställe, um zu zeigen, wie das in Zukunft aussehen könnte: der eine als Fortentwicklung der heutigen Ställe, der andere als Beispiel, was alles möglich sein wird in Zukunft. Erfreulicherweise hat der Bund im Rahmen des Konjunkturpaketes 300 Millionen Euro für Stallumbaumaßnahmen in Aussicht gestellt. Ein Problem sind lange Genehmigungsverfahren. Indem Bundesrecht angepasst wird, können und müssen wir schneller werden. Ein erster Meilenstein wären spürbare Verbesserungen des Tierschutzes in der Sauenhaltung. Hier haben wir im Bundesrat einen entsprechenden Vorschlag ausgearbeitet und vorgelegt.

Welche Auswirkungen hatte die Corona-Pandemie speziell für die Landwirtschaft?

Heinen-Esser: Erfreulicherweise ist die Landwirtschaft besser durch die Krise gekommen als andere Branchen. Dank des großen Einsatzes der Landwirtinnen und Landwirte und flankierender politischer Unterstützung gab es bisher keine Versorgungsengpässe. Einzig im Bereich Obst und Gemüsen gab es zu Beginn Probleme. Bei Gemüse haben wir mit etwa 40 Prozent keinen hohen Selbstversorgungsgrad und sind auf Importe angewiesen. Und Corona kam ja zum Saisonauftakt etwa der Spargel- oder Rhabarber-Ernte. Auch Kohl, Salate oder Lauch mussten gepflanzt werden. Da hatten wir dann das Problem der ausbleibenden Saisonarbeitnehmer.

Die Horst Seehofer (CSU) nicht ins Land lassen wollte. Haben Sie ihm das übelgenommen?

Heinen-Esser: Ich hätte mir da mehr Realitätsnähe gewünscht.

Corona hat auch die Bauernproteste zu Beginn des Jahres erst einmal wieder beendet. Sehen Sie das damals vorgebrachte Problem, dass es eine grundsätzlich feindliche Stimmung gegenüber der Landwirtschaft gibt?

Heinen-Esser: Ich erlebe beides – Bauern-Bashing und Solidarität. Auch hier ist ein ambivalentes Verhalten zu beobachten: An der Fleischtheke greifen die Verbraucher zum Schnäppchen, in Umfragen fordern sie mehr Umwelt- und Tierschutz und kritisieren Landwirte, nicht genug zu tun. Doch die Landwirtschaft bewegt sich, dabei müssen wir sie unterstützen. Oftmals herrscht in der Gesellschaft ein extrem verzerrtes Bild von Landwirtschaft. Ich kann nur dazu einladen, sich vor Ort selbst ein Bild zu machen. Das ist die Grundlage für einen fruchtbaren Dialog, zum Beispiel zum Thema Gülle und Grundwasserqualität.

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