Interview mit dem NRW-Ministerpräsidenten Laschet: „Die Zukunft Europas macht mir große Sorgen“

Düsseldorf · Er kenne niemanden, der jetzt noch einmal fünf Wochen Lockdown mit massiven Schäden für Menschen, Gesundheit und Wirtschaft verantworten könne, sagt Armin Laschet. Der NRW-Ministerpräsident im Interview über weitere Lockerungen, die Massenproteste gegen die Corona-Beschränkungen und die Rolle Europas.

 Armin Laschet (CDU), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen.

Armin Laschet (CDU), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen.

Foto: dpa/Bernd Thissen

Herr Laschet, laut Robert Koch-Institut ist die Ansteckungsrate wieder über den kritischen Wert 1 gestiegen. Kamen die Lockerungen zu früh?

Armin Laschet: Nein. Heute haben wir laut RKI mit bundesweit 357 Neuinfektionen den niedrigsten Montagswert seit Monaten. Natürlich beachten wir alle Faktoren sehr genau, um ein umfassendes Lagebild zu haben. Die R-Zahl ist eine davon. Wir müssen ganzheitlich abwägen und alle Schäden für die Menschen und die Gesundheit im Blick haben. Entscheidend ist, regional schnell und konsequent zu handeln, so wie dies im Kreis Coesfeld geschehen ist.

Hätte man mit den Lockerungen warten sollen, bis die Tracing-App da ist?

Laschet: Ich kenne niemanden, der jetzt noch einmal fünf Wochen Lockdown verantworten kann – mit massiven Schäden für Menschen, Gesundheit und Wirtschaft. Mir schrieb jüngst ein Sohn, sein Vater habe den Lebenswillen verloren, weil er im Pflegeheim keinen Besuch mehr bekommen durfte, und sei gestorben. Und der Sohn durfte nicht mehr zu ihm. Was für eine furchtbare Geschichte. Die Maßnahmen waren auch im Rückblick nötig, um das Virus zu bekämpfen, aber das können wir nicht allein in der Hoffnung auf die Wirkung einer App verlängern. Wir kommen jetzt aus der Phase der Verbote in die Phase der Verantwortung jedes Einzelnen und müssen ganzheitlicher denken, abwägen und entscheiden.

Am Wochenende gab es Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen – mit dabei: Verschwörungstheoretiker und Radikale. Beunruhigt?

Laschet: Es gehört zur Demokratie, dass Bürgerinnen und Bürger das Recht haben, ihre Meinung zu äußern. Aber es ist beunruhigend, wenn Extremisten von rechts und links die Diskussion anheizen und versuchen, für ihre Zwecke zu missbrauchen. Nicht hinnehmbar sind Verstöße gegen die Abstandsregeln, denn sie gefährden die Gesundheit anderer. Vor allem aber sind Angriffe auf Journalisten inakzeptabel. Solche Angriffe auf die Pressefreiheit werden wir ebenso wenig dulden wie Attacken gegen Polizisten oder Ordnungskräfte. Hier gilt Null-Toleranz gegen Gewalttäter.

Sie öffnen für wenig Unterricht vor den Sommerferien die Schulen und riskieren so eine Ausbreitung. Wieso?

Laschet: Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Bildung und Erziehung, auch in Zeiten von Corona. Nach fast acht Wochen Corona-Zwangspause sind wir in der vergangenen Woche mit rund 160 000 Viertklässlern gestartet – und das erfolgreich. Nicht alle Kinder haben zu Hause die gleichen Möglichkeiten zu lernen. Deshalb muss es auch einen Präsenzunterricht für alle Kinder geben. Dies haben alle Kultusminister parteiübergreifend beschlossen. Natürlich geht das nur sehr eingeschränkt und unter Einhaltung strenger Hygienestandards und Maßnahmen des Infektionsschutzes. Die Gesundheit der Schülerinnen und Schüler hat oberste Priorität – das gilt mit Blick auf Corona, aber ebenso mit Blick auf das soziale Wohlbefinden. Wenn Schulen monatelang geschlossen wären, ginge die soziale Schere weiter auseinander. Man muss immer alle Folgen einer Entscheidung abwägen.

Wann werden Großeltern ihre Enkelkinder wiedersehen können?

Laschet: Die Distanz schmerzt, ganz klar. Unsere Kontaktbeschränkungen gelten weiter. Vorsicht ist weiter geboten, gerade im Umgang mit gefährdeten Zielgruppen. Ich möchte nicht spekulieren, wann in jedem Einzelfall der Großelternbesuch wieder möglich sein wird.

Sie wollen sich mit den Amtskollegen in Belgien und den Niederlanden abstimmen. Worum soll es gehen?

Laschet: Seit März koordinieren Belgien, die Niederlande und Nordrhein-Westfalen auf meine Initiative in einer grenzüberschreitenden Task-Force Aktivitäten und Bausteine des Krisenmanagements im Kampf gegen Corona. Mit dem niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte habe ich am Wochenende verabredet, besonders Schritte im Tourismus abzustimmen. Es geht aber auch um Frankreich. Dass die Europa-Brücke zwischen Kehl und Straßburg gesperrt ist, schmerzt mich seit Wochen. Dass Sie ausgerechnet nicht nach Schengen über die Mosel dürfen und dort die Fahnen auf Halbmast wehen, ist ebenfalls schmerzhaft. Ohne den Binnenmarkt mit offenen Grenzen kann auch Deutschland die Krise nicht überwinden.

Aber die Zeit drängt ja wegen der nahenden Sommerferien.

Laschet: Bis zum 15. Mai gelten noch die vom Bundesinnenminister verfügten Grenzkontrollen. Wenn Frankreich den Lockdown am 11. Mai beendet, brauchen wir eine Lockerung der Quarantäne-Maßnahmen für Rückkehrer aus den europäischen Ländern. Da bin ich mit meiner Amtskollegin aus Rheinland-Pfalz und dem Kollegen aus dem Saarland einer Meinung. Der wirtschaftliche Wiederaufbau Europas gelingt nur gemeinsam. Aus meiner Sicht waren die vergangenen Wochen zu sehr nationalstaatlich und zu wenig europäisch geprägt. Die Zukunft Europas macht mir große Sorgen. Wir brauchen neue europäische Ideen in einer Welt nach der Pandemie.

Die Stimmung der NRW-Wirtschaft ist auf einem Allzeittief. Werden die aktuellen Hilfsbemühungen von Bund und Kommune ausreichen?

Laschet: Das exponentielle Wachstum bei der Arbeitslosigkeit ist in seiner Dimension nicht abschätzbar. Wir wissen gar nicht, welche Betriebe die Krise überleben werden. Bislang haben wir nur kurzfristige Maßnahmen zur Rettung von Betrieben für die Zeit des Lockdowns unternommen. Die NRW-Soforthilfe zum Beispiel mit beinahe vier Milliarden Euro für Kleinbetriebe und Solo-Selbstständige ist das bisher größte Wirtschaftsprogramm in Nordrhein-Westfalen gewesen. Das ist noch kein Konjunkturprogramm für die kommenden Jahre, das sind nur erste Nothilfen.

Welche Konjunkturprogramme sind denkbar?

Laschet: Der Staat kann nicht jeden Verlust mit Billionen Schulden auf Kosten künftiger Generationen ausgleichen. Wir müssen gezielt Impulse geben für unsere mittelständische Industrie. Und wir brauchen eine Perspektive für die Stahlindustrie. Sie können wir mit der Wasserstofftechnologie stärken, ähnlich wie bei der Autoindustrie die Elektromobilität durch einen Nachhaltigkeitsfaktor. So können wir auch die Konjunktur ankurbeln.

Das 25-Milliarden-Euro-Hilfspaket bedeutet, dass Ihnen in den kommenden 50 Jahren jährlich 500 Millionen im Haushalt fehlen werden. Der Gestaltungsspielraum schrumpft…

Laschet: Das gehört auch zu den Folgeschäden. Wir müssen darauf achten, dass die staatlichen Systeme wie die Sozialversicherungen gesund bleiben. Einige systemrelevante Unternehmen müssen wir selbstverständlich stützen, um sie zu retten.

Wen meinen Sie?

Laschet: Es ist jedenfalls richtig, die Lufthansa zu stabilisieren.

Ist die Tui auch systemrelevant?

Laschet: Die Tui ist jedenfalls so groß, dass extrem viele Arbeitsplätze dranhängen, auch in Nordrhein-Westfalen.

Viel Kritik gab es für die Art und Weise, wie eine Agentur die Heinsberg-Studie vermarktet hat. Was ist da schiefgelaufen?

Laschet: Wir haben die Studie in Auftrag gegeben, die mit dem Forschungsprojekt „Covid-19 Case-Cluster-Study“ befassten Wissenschaftler haben uns ihre Zwischenergebnisse vorgestellt, und diese haben wir den anderen Ministerpräsidenten zur Verfügung gestellt. Nicht mehr und nicht weniger. Im Übrigen war die Studie eine der ersten in ganz Deutschland, sogar weltweit, die das Infektionsgeschehen gezielt untersucht hat. Sie hat Anhaltspunkte gegeben und ist eine von vielen wissenschaftlichen Expertisen, die in die Entscheidungen eingeflossen sind. Wir sollten noch mehr wissenschaftliche Expertise für den Umgang mit der Krise einfließen lassen.

Laut Infratest Dimap favorisieren die Unionsanhänger inzwischen CSU-Chef Markus Söder als Kanzlerkandidat. Wie erklären Sie sich dessen Zuwachs an Popularität?

Laschet: Das ist für mich derzeit kein Thema. Und die Frage der Kanzlerkandidatur beschäftigt in der CDU gerade niemand.

Sie liegen hinter Söder und Friedrich Merz – macht Ihnen das Sorge?

Laschet: Nein. Die CDU in Nordrhein-Westfalen, auch ich persönlich, erleben eine starke, weiter wachsende Zustimmung. Das sind die besten Werte seit vielen Jahren. So oder so gilt: Das einzige, was mich interessiert, ist, was derzeit das Richtige für die Menschen ist.

Gehen Sie davon aus, dass die CDU erst im Dezember ihren neuen Parteichef wählen wird?

Laschet: Keiner kennt die Lage im Dezember. Wir beschäftigen uns damit, wenn es ansteht.

Innenminister Seehofer hat eine fünfte Amtszeit Merkels ins Spiel gebracht – was halten Sie davon?

Laschet: Ich freue mich, dass Horst Seehofer und Angela Merkel jetzt so eng beieinander sind, dass er sich das vorstellen kann. Das ist ein gutes Signal für Deutschland. Darüber hinaus sollten wir respektieren, was die Kanzlerin selbst dazu gesagt hat.

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