Interview mit Martin Schulz „Ich schwebe nicht auf Wolke sieben“

In einem Interview spricht der künftige SPD-Vorsitzende Martin Schulz über die Agenda 2010, die Bundestagswahl und den 1. FC Köln.

 „Wer mit uns koalieren will, ist herzlich eingeladen, nach der Wahl auf uns zuzukommen“, sagt Martin Schulz.

„Wer mit uns koalieren will, ist herzlich eingeladen, nach der Wahl auf uns zuzukommen“, sagt Martin Schulz.

Foto: AP

Am Sonntag wird Martin Schulz Sigmar Gabriel an der Spitze der SPD ablösen. Grund genug für ein paar kritische Fragen.

Herr Schulz, ist der Hype um Sie schon vorbei, oder warum müssen Sie Ihre eigenen Anhänger wie in Würzburg zum Jubeln animieren?

Martin Schulz: Wenn Sie auf einer der Veranstaltungen gewesen wären, die ich in den letzten sechs Wochen gemacht habe, wüssten Sie: Weder ich noch sonst irgendjemand muss die Leute zum Jubeln animieren.

Es gibt einen Video-Mitschnitt, wie Sie nach einem Auftritt einigen Jusos sagen, sie sollen „Martin“ rufen...

Schulz: Das Video wurde mit einer bestimmten Absicht zusammengeschnitten. Und eigentlich würde ich mit Ihnen lieber über Politik reden…

Sie haben früher mal gesagt, dass Sie lernen mussten, bescheidener zu werden. Ist es eine Gefahr, dass Sie sich von dem Erfolg Ihrer Kandidatur davontragen lassen könnten?

Schulz: Nein, das glaube ich nicht. Ich bin weder in der Gefahr, mich von Attacken niederdrücken noch mich von positiven Emotionen davontragen zu lassen. Ich war mal ganz unten und habe gelernt, dass man eine innere Mitte braucht. Die habe ich jetzt.

Wer holt Sie wieder runter, wenn Sie auf Wolke sieben schweben?

Schulz: Ich schwebe nicht auf Wolke sieben. Sollte es mal soweit kommen, habe ich genug Leute um mich herum, vorneweg meine Familie. Aber natürlich freue ich mich, dass die SPD jetzt so viel Zustimmung erfährt. Ich weiß, dass das nur wenig mit meiner Person zu tun hat. Und dass vor uns verdammt viel Arbeit liegt.

Sie haben vor Ihrer Kandidatur die Agenda 2010 als Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg des Landes bezeichnet, rücken nun aber in Teilen davon ab. Warum?

Schulz: Die Agenda 2010 war ein Projekt des Jahres 2003. Damals gab es fast fünf Millionen Arbeitslose, heute leidet die Wirtschaft unter Fachkräftemangel. Ich denke nach vorne. Und deshalb entwickeln wir bestimmte Elemente weiter, etwa durch die Umgestaltung der Bundesagentur für Arbeit in eine Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung. Je besser qualifiziert die Menschen sind, desto höher ist die Chance, in den Arbeitsmarkt zu kommen.

Bisher werden die Mittel für Qualifikation bei der BA kaum abgerufen, viele Arbeitslose gingen auf Anraten der Bundesagentur in Frührente.

Schulz: Das war vielleicht in der Vergangenheit so, aber jetzt haben wir Fachkräftemangel! Die Qualifizierung muss deshalb viel präziser auf die individuellen Stärken und Schwächen des einzelnen Arbeitslosen ausgerichtet werden. Und sie muss den Bedarf des regionalen Arbeitsmarktes im Auge behalten, der ist in Düsseldorf im Zweifelsfall anders als in Dessau. Dass wir die Bundesagentur stärker auf Qualifizierung ausrichten wollen heißt nicht, dass wir völlig neue Strukturen schaffen wollen...

Langzeitarbeitslosen ist mit Ihrem ALG Q aber kaum geholfen.

Schulz: Stimmt, das habe ich aber auch nie behauptet. Um das Thema werden wir uns gesondert kümmern müssen. Manche unterstellen ja, beim ALG Q ginge es um soziale Wohltaten. Im Kern geht es um den Standort Deutschland. Wenn wir den Fachkräftemangel nicht in den Griff bekommen, schadet das massiv unserer Wettbewerbsfähigkeit.

Der linke SPD-Flügel macht sich dafür stark, die Hartz-IV-Sanktionen abzuschaffen. Sind Sie dabei?

Schulz: Ich habe den Eindruck, dass dieses Thema ein bisschen überhöht wird. Bei den Sanktionen geht es ja nicht um Schikanen. Sondern darum, dass sich selbstverständlich auch Bezieher von Hartz IV an bestimmte Spielregeln halten und etwa verabredete Gesprächstermine einhalten.

Blickt man auf die Statistiken, geht es unserem Land sehr gut. Es gibt so viele Abiturienten wie nie, die Löhne und Renten sind so hoch wie nie, die Zahl der Langzeitarbeitslosen auf einem Rekordtief. Sie reden von sozialer Ungerechtigkeit.

Schulz: Ich sage in jeder meiner Reden: Deutschland ist ein starkes, ein blühendes Land. Darauf können wir stolz sein. Und doch mache ich bei meinen Gesprächen immer wieder eine Erfahrung. Die Leute sagen: „Mir persönlich geht es gar nicht schlecht. Aber ich habe das Gefühl, dass es in der Gesellschaft nicht gerecht zugeht.“

Zu welchem Schluss kommen Sie?

Schulz: Dass trotz guter Wirtschaftsdaten etwas aus dem Lot geraten ist. Das fängt damit an, dass Manager, die große Konzerne fast vor die Wand gefahren haben, dennoch Millionenabfindungen bekommen, während eine Kassiererin für ein kleinstes Vergehen entlassen wird. Gleichzeitig fragen sich viele, wie sie die Doppelbelastung zwischen Kindern in der Schule und pflegebedürftigen Eltern schaffen sollen. Wir brauchen mehr Investitionen für kostenfreie Kinderbetreuung und Bildung und für mehr Pflegekräfte, um diese Familien zu entlasten. Sie tragen die Hauptlast in diesem Land.

Sie fordern mehr Bildungsinvestitionen, bessere Kinderbetreuung. Das SPD-regierte Land NRW liegt in diesen Bereichen hinten.

Schulz: Das stimmt nicht. NRW hat die Kita-Plätze auf 169.000 fast verdoppelt, seit 2010 mehr als 200 Milliarden in Kinder, Familien und Bildung investiert und so viele neue Polizeistellen wie kein anderes Land geschaffen. Das ist die Bilanz der Regierung Kraft.

Die Kinderarmut ist höher als anderswo, die Bildungsinvestitionen pro Kopf sind deutlich niedriger...

Schulz: Kinderarmut resultiert aus Erwachsenenarmut. Natürlich gibt es noch Herausforderungen. Damit viele Langzeitarbeitslose wieder in Arbeit kommen, baut das Land mit eigenem Geld einen sozialen Arbeitsmarkt weiter aus. NRW hat sehr viel aufgeholt. Heute gibt es noch neun Kommunen mit Nothaushalten, 2010 waren es 138. NRW ist auf dem richtigen Weg.

Wann sollte der Spitzensteuersatz gezahlt werden?

Schulz: Wir erarbeiten im Moment ein Steuerkonzept und werden es zu gegebener Zeit präsentieren.

Vor der NRW-Wahl?

Schulz: Nein, wir brauchen Zeit. Ich habe der SPD-internen Arbeitsgruppe einen Leitsatz mit auf den Weg gegeben: Menschen, die hart für ihr Geld arbeiten, dürfen nicht schlechter gestellt werden, als die, die ihr Geld für sich arbeiten lassen.

Die SPD hätte vieles in den Regierungsjahren seit 2013 umsetzen können.

Also hat die SPD alles richtig gemacht?

Schulz: Ich bin schon stolz auf das Erreichte! Aber wir haben ganz sicher nicht alles richtig gemacht – auch ich persönlich nicht. Sozialdemokraten sind nicht die besseren Menschen. Ich reise gerade durch die Republik, um zuzuhören und zu erfahren, was die Leute wirklich bewegt.

Hat die große Koalition zu mehr Politikverdrossenheit geführt?

Schulz: Das weiß ich nicht. Seit Jahren höre ich aber immer wieder den Vorwurf: „Ihr Politiker seid doch alle gleich.“ Das ist gefährlich. Denn zur demokratischen Wahl gehört Unterscheidbarkeit.

Aber eine Wiederauflage der großen Koalition schließen Sie nicht aus, wie es die Jusos fordern.

Schulz: Es ist doch klar, dass Johanna Uekermann als Chefin der Jungsozialisten diesen Punkt machen muss. Und sie teilt meine Auffassung, dass wir stärkste Kraft werden wollen. Wer mit uns koalieren will, ist herzlich eingeladen, nach der Wahl auf uns zuzukommen. Einzig ein Bündnis mit der AfD schließe ich aus.

Muss Europa mit einer Stimme auf die Eskalationen aus der Türkei reagieren?

Schulz: Ja, das wäre sehr wünschenswert. Aber ich bin da nicht allzu optimistisch: Griechenland hat gegenüber der Türkei andere Interessen als wir Deutschen oder die Franzosen. Das gemeinsame europäische Interesse wird leider häufig nicht gesehen. Da müssen wir alle miteinander besser werden.

Würden Sie finanzielle Sanktionen gegen die Türkei befürworten?

Schulz: Es kommt immer darauf an, worüber man redet. Es gibt Zahlungen im Rahmen des Flüchtlingsabkommens. Damit unterstützen wir aber nicht Herrn Erdogan, sondern die in der Türkei lebenden Flüchtlinge. Wenn man da kürzen würde, würde man also die falschen treffe. So ist Erdogan nicht beizukommen. Jeder Regierungschef in Europa sollte ihm klipp und klar sagen, dass er derzeit sämtliche Grenzen überschreitet. Unter den gegenwärtigen Umständen ist ein EU-Beitritt völlig ausgeschlossen. Schon in meiner Zeit als Parlamentspräsident habe ich die von der Türkei geforderte Visa-Liberalisierung aufs Eis gelegt, weil Ankara nicht wie versprochen die Anti-Terror-Gesetze überarbeitet hat.

Sie selbst stehen in der Kritik, zu Ihrer Zeit als Parlamentspräsident eigenen Mitarbeitern Vorteile verschafft zu haben, die EU-Verwaltung prüft ein Ermittlungsverfahren. Was sagen Sie dazu?

Schulz: Ich verweise auf die Verwaltung des Europäischen Parlaments. Und die sagt: Die Vorwürfe sind unbegründet.

Eine letzte Frage an Sie als 1. FC Köln-Fan: Was passiert eher? Dass Martin Schulz Kanzler wird oder der FC europäisch spielt?

Schulz: Das wird beides im gleichen Jahr passieren: 2017.

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