WDR-Chefredakteur Jörg Schönenborn im Interview "Ich bin einfach gespannt"

Wenn am nächsten Sonntag um 18 Uhr die Wahllokale geschlossen sind, richten sich die Augen von Millionen von Fernsehzuschauern auf Jörg Schönenborn. Er selbst sagt: "Ich bin einfach gespannt".

 Der Mann und seine Zahlen - Jörg Schönenborn bei der Präsentation einer Hochrechnung am vorigen Sonntag in München.

Der Mann und seine Zahlen - Jörg Schönenborn bei der Präsentation einer Hochrechnung am vorigen Sonntag in München.

Foto: dpa

Denn dann präsentiert der 49-Jährige in der ARD die Prognose zum Ausgang der Bundestagswahl. Mit Schönenborn, dem WDR-Chefredakteur, sprach in seinem Büro in Köln Bernd Eyermann.

Der Endspurt im Bundestagswahlkampf läuft. Was hat Sie beim Blick auf die Umfragezahlen überrascht?
Jörg Schönenborn: Dass die Grünen in einem Vierteljahr um fünf Punkte zurückgefallen sind.

Woran liegt es?
Schönenborn: Die Grünen sind nicht die Partei, von der man in erster Linie ein Steuerkonzept erwartet. Das ist zu buchhalterisch und kleinkrämerisch für eine Partei, die sich mit den großen Zukunftsfragen wie Frieden, Atomkraft oder Gleichberechtigung beschäftigt. Die Grünen-Wähler erwarten gesellschaftliche Weichenstellungen, für Steuertarife sind andere Parteien zuständig.

Ist es für Sie auch überraschend, dass die Bundeskanzlerin konstant populär geblieben ist?
Schönenborn: Nein. Ich glaube, dass Frau Merkel ein ganz zuverlässiges Gespür für Stimmungen hat. Außerdem vermutet niemand, dass sie sich eine hohe Pension erarbeiten will oder dass sie auf den eigenen Ruhm aus ist. Sie ist eine Person, die man für rechtschaffen hält. Sie mag Fehler machen, aber die allermeisten Deutschen unterstellen ihr, dass sie ihre Arbeit mit gutem Willen macht. Das ist erstaunlich in einer Zeit, in der Politiker oft für eigensüchtig gehalten werden.

Ziehen Sie einen Vergleich zu früheren Wahlen?
Schönenborn: Der Wahlkampf erinnert mich mehr an 2009 als an 2002 oder 2005.

Warum?
Schönenborn: 2002 und 2005 gab es große Kontroversen der großen Parteien. Jetzt ist es eher wie vor vier Jahren. Man muss die Unterschiede gelegentlich mit der Lupe suchen.

Das ist ja insofern verwunderlich, weil eine große Partei in der Regierung und die andere in der Opposition ist.
Schönenborn: Das hat sicher mit der großen Koalition bis 2009 zu tun. Beide fühlen sich verantwortlich für den Aufschwung, aber beide werden auch für die Missstände verantwortlich gemacht: geringe Löhne, Leiharbeit. Wir merken in unseren Sendungen oft, dass das die Menschen sehr bewegt. Wirtschaftspolitisch ist Herr Steinbrück ja auch nicht weit von Frau Merkel entfernt.

Sie haben bei Ihren Wahlarena-Sendungen mit den beiden Spitzenkandidaten zwischen drei und vier Millionen Zuschauern gehabt. Ist das ein guter Wert?
Schönenborn: Ja, das ist mehr als vor vier Jahren. Und es zeigt: Das Interesse am Wahlkampf ist größer als 2009.

Wann ist für Sie eine Wahlsendung gelungen?
Schönenborn: Wenn sich wie bei den Wahlarenen die Journalisten zurückhalten können, weil selbstbewusste Wähler sich auch nicht mit einer Antwort abspeisen lassen. Wenn also Merkel oder Steinbrück aus der gestanzten Rolle herausfallen, wie man sie jeden Abend in der Tagesschau sieht, dann ist das ein großer Moment. Dann erkennt man etwas von dem Menschen hinter dem Politiker.

Sie sind seit 1999 das Gesicht der Zahlen von Infratest dimap. Wie sind Sie dazu gekommen? Haben Sie eine Affinität zu Zahlen?
Schönenborn: Eigentlich gar nicht. Meine damalige Chefin Marion von Haaren hatte mich vorgeschlagen, und ich habe mich wahnsinnig darüber gefreut.

Warum?
Schönenborn: Ich habe schon als Kind und Jugendlicher mit Begeisterung diese Wahlsendungen geguckt.

Woran erinnern Sie sich besonders?
Schönenborn: An Rüdiger Hoffmann, der das damals für die ARD gemacht hat, an die spannenden Fragen um 18 Uhr, wie hoch die Säulen der Parteien steigen, aber auch daran, ob die Computer funktionieren.

Was ist für Sie das Faszinierende an den Wahlsendungen?
Schönenborn: Es gibt ja in der Politik nur wenige Situationen, bei denen man als Journalist dabei ist, in denen sich Dinge - ähnlich wie bei einem Fußballendspiel - live entwickeln. Das ist das Tolle an den Wahlabenden. Die politischen Fakten entstehen durch die Hochrechnungen, die am Ende ins Ergebnis münden.

Wie kommen Ihre Hochrechnungen zustande?
Schönenborn: Bei der Bundestagswahl basieren sie zunächst auf einer Stichprobe in 400 Wahllokalen in ganz Deutschland. Die sind in der Regel bis 20 Uhr ausgezählt. Danach laufen die Wahlkreisergebnisse ein, die dann eingearbeitet werden - bis hin zum vorläufigen Endergebnis.

In der vorigen Woche gab es den letzten Deutschlandtrend von Infratest dimap vor der Wahl. Warum veröffentlicht die ARD in dieser Woche keine Umfragen mehr?
Schönenborn: Das ist eine gute Tradition, weil wir wissen, dass sich ein großer Teil der Wähler erst in der letzten Woche entscheidet. Aber nicht eindeutig, sondern mal so rum und mal so rum. Die Entscheidung vom Mittwoch kann am Donnerstag schon wieder umgestoßen werden, und am Samstag nochmal. Wenn wir in dieser Situation das Ergebnis einer Sonntagsfrage veröffentlichen, würden wir die Zuschauer mehr irritieren als informieren.

Das ZDF sieht das anders und veröffentlicht in dieser Woche noch ein Politbarometer.
Schönenborn: Wir haben lange überlegt, ob wir es auch machen sollten. Aber gerade in der letzten Woche passiert es oft, dass eine Partei stark steigt oder sinkt. Wir wissen aber nicht, ob das ein zufälliger Ausschlag ist oder nicht. Wenn wir ein solches Ergebnis dann veröffentlichen, könnte das sogar politische Folgen haben, weil sich Wähler danach entscheiden. Also lassen wir es lieber.

Warum entscheiden sich die Wähler so spät?
Schönenborn: Politik spielt für viele Menschen im Alltag eine untergeordnete Rolle. Die wissen, irgendwann muss ich mich entscheiden, die tun das aber nicht im Juli oder August. Das ist ziemlich menschlich.

Wagen Sie einen Wahltipp?
Schönenborn: Nein, ich habe schon so viele Überraschungen erlebt, dass ich mich lieber mit den möglichen Szenarien beschäftige, die passieren könnten.

Worauf sind Sie besonders gespannt? Dass technisch alles funktioniert?
Schönenborn: Um die Technik brauchen wir uns keine Sorge mehr zu machen. Wir hatten mal einen Stromausfall um viertel vor sechs. Aber das lag nicht an den Computern. Nein, ich bin einfach gespannt, wie es ausgeht. Viele Leute, die mich auf der Straße ansprechen, meinen ja, ich wüsste schon lange im Voraus, wie es ausgeht, ich würde es nur nicht sagen. Das stimmt nicht. Lediglich bei der Prognose um 18 Uhr weiß ich schon ein paar Stunden vorher, in welche Richtung es sich entwickelt.

Zur Person

Zum Journalismus kam Jörg Schönenborn dadurch, dass er zu Abiturzeiten als Sportreporter für das Solinger Tageblatt arbeitete. Er studierte an der Dortmunder Universität Journalistik und Politikwissenschaft, ist seit 1985 beim WDR tätig, arbeitete in den 90er Jahren als NRW-Korrespondent für die ARD-Nachrichtensendungen, ist seit 2002 WDR-Chefredakteur Fernsehen und moderiert seit 2007 den "Presseclub". Schönenborn lebt mit seiner Frau in Hilden

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