Interview Gregor Gysi: "Das Land braucht Protest und Widerstand"

Linke-Fraktionschef Gregor Gysi sieht trotz der Ablehnung durch SPD und Grüne eine zunehmende Akzeptanz für Rot-Rot-Grün bei den Wählern in Deutschland. Die SPD stehe allerdings an einem Scheidepunkt ihrer künftigen Politik und habe zunehmend "ihre Orientierung verloren". Mit Gysi sprach Holger Möhle.

 "Deutschland lässt sich nicht über den Weg einer Tolerierung regieren", sagt Gregor Gysi.

"Deutschland lässt sich nicht über den Weg einer Tolerierung regieren", sagt Gregor Gysi.

Foto: dpa

Herr Gysi, woran liegt es, dass elf Tage vor der Bundestagswahl keine Wechselstimmung auszumachen ist. Hat die Kanzlerin das Land erfolgreich eingelullt oder ist die Mehrheit der Menschen einfach zufrieden?
Gregor Gysi: Nein, das glaube ich nicht. Es gibt viele Frustrierte, die man erst einmal dazu aufrufen muss, überhaupt wählen zu gehen. Das ist auch eine Aufgabe der Linken. Außerdem denken viele Menschen mit Unbehagen über die Euro-Krise und ihre Folgen nach. Und in einer Krise scheuen viele Menschen Experimente, weil sie hoffen, dass gerade Frau Merkel ihnen ihre Sparguthaben sichert. Dabei wird uns die Art der Euro-Rettung, wie sie die Bundeskanzlerin verfolgt, viel Geld kosten. Der Euro muss gerettet werden. Aber nicht so, dass der Süden vor die Hunde geht. Wenn ein weiterer Schuldenschnitt für Griechenland kommt und Deutschland dann mit 27 Prozent der Garantien wirklich haftet, wird das richtig teuer. Bezahlen werden das wieder einmal die Frisörin in Bonn und ihre Kollegin in Athen. Dagegen stellt sich die Linke. Aber ich habe den Eindruck, es kommt gerade etwas Spannung in den Wahlkampf.

Peer Steinbrück hält die Linke im Bund für nicht regierungsfähig, die Grünen wollen ebenfalls nicht mit Ihnen. Dann ist Rot-Rot-Grün nach der Wahl ja schon gegessen, oder?
Gysi: Das weiß ich nicht, aber zumindest mit Herrn Steinbrück ist Rot-Rot-Grün nicht sehr wahrscheinlich. Aber es gibt Unterschiede zu den Vorjahren, weil die Akzeptanz in der Bevölkerung für Rot-Rot-Grün deutlich gewachsen ist. 15 Prozent der Bevölkerung wollen eine solche Koalition, ein Wert, der vor zehn Jahren noch undenkbar gewesen wäre...

...aber immer noch lange nicht für eine Mehrheit reicht...
Gysi: Richtig, aber Rot-Grün wollen auch nur 17 Prozent und vor vier bis acht Jahren hätten Sie mich das gar nicht gefragt, weil sie das für einen völlig absurden Gedanken gehalten hätten. Es gibt eine andere Stimmung zu Rot-Rot-Grün. Wenn es eine Mehrheit jenseits von Union und FDP geben sollte, dann müssen sowohl die SPD als auch die Grünen erklären, wieso sie diese Mehrheit nicht für einen Politikwechsel zu mehr sozialer Gerechtigkeit nutzen.

Haben Sie eine Vermutung, warum SPD-Chef Sigmar Gabriel wenige Tage nach der Bundestagswahl einen Parteikonvent angesetzt hat?
Gysi: Herr Gabriel will nicht mit uns. Und er will auch keine große Koalition. Die Frage ist nur: Was dann? Vielleicht gibt ihm da der Parteikonvent eine Antwort. Oder er will dort eine Frage ganz anders stellen. Wir sind auf Gespräche jedenfalls vorbereitet. Unser eigentlicher Wert, und das ist die inhaltliche Hürde für die SPD, sind sechs Themen, bei denen wir allein gegen alle anderen Fraktionen im Bundestag stehen: keine Kriegsbeteiligung der Bundeswehr, keine Waffenexporte, falsche Euro-Rettungsschirme, Kürzung der Rente um zwei Jahre sowie die Senkung des Rentenniveaus, die prekäre Beschäftigung sowie Hartz IV. In diesen sechs Punkten sind wir dagegen beziehungsweise wollen geltende Gesetze dazu ändern. Die SPD muss wissen, welchen Weg sie gehen will. Wenn sie sich weiter an Kriegen beteiligen oder Renten kürzen will, okay, dann ist die Linke zweifellos die falsche Partnerin. Dann passt die SPD zur Union.

Was sind für die Linke die Bedingungen für Rot-Rot-Grün?
Gysi: Die Richtung muss stimmen. Was auf dem Kompromissweg ausgehandelt werden kann, ist die Länge des Schritts. Ich kann doch nicht zustimmen, dass die Bundeswehr erneut in einen Krieg zieht oder die Rente weiter erst ab 67 gezahlt wird. Aber Stoppschilder gibt es doch bei allen: Die Grünen würden auch in keine Regierung gehen, die neue AKWs eröffnet. Ich bitte Sie... Nur bei der SPD ist das anders. Aber das wird ihr nicht bekommen.

Warum ist das so?
Gysi: Die SPD hat ihre Orientierung verloren. Die Sozialdemokraten standen immer nur von rechts unter Druck. Sie standen vor der Frage: Wie holen sie Stimmen von der Union, um mehrheitsfähig zu werden.

Sie lehnen die Tolerierung einer rot-grünen Minderheitsregierung ab. In Nordrhein-Westfalen hat die Linke aber genau so die SPD zurück an die Macht gebracht. Warum jetzt so skeptisch?
Gysi: In NRW haben wir das ja auch teuer bezahlt und haben den Wiedereinzug in den Landtag verpasst. Aber: Was in einem Bundesland geht, geht noch lange nicht im Bund. Wenn wir immer nur zustimmen, also Mehrheitsbeschaffer für SPD und Grünen sein sollen, dann können wir auch gleich mitregieren. Dann sollen wir auch am Kabinettstisch beteiligt sein. Grundsätzlich aber lässt sich ein so wichtiges Land wie Deutschland, eine der wichtigsten Mittelmächte weltweit, nicht über den Weg einer Tolerierung regieren. Das wäre unverantwortlich. Deswegen: Wir sind entweder klar Opposition oder klar in der Regierung.

Sie selbst haben beim Parteitag 2012 in Göttingen gewarnt, entweder gelinge ein Neuanfang oder es endet in einem Desaster bis hin zur möglichen Spaltung. Wie kuriert ist die Linke heute?
Gysi: Also dieser Gewitterparteitag von Göttingen, der hat unsere Genossen erschreckt. Seither ist die Partei sehr viel disziplinierter geworden. Beide Teile haben begriffen, dass sie alleine gar keine Chance haben. Nur als bundesweite Partei haben wir Geltung. Ich bin mit der Entwicklung sehr zufrieden. Deshalb kämpfe ich auch mit Leidenschaft um ein zweistelliges Ergebnis bei dieser Bundestagswahl. Ich bin da ziemlich optimistisch, dass wir das erreichen.

Wie lange können Sie Frau Wagenknecht noch als Co-Vorsitzende der Linke-Fraktion im Bundestag verhindern?
Gysi: Ich bitte Sie, alles wird die Fraktion entscheiden. Aber eines kann ich Ihnen garantieren. Ich bin einmal mit Lothar Bisky zusammen von der Spitze zu früh gegangen. Das war ein Fehler. Aber ich gehe ganz gewiss nicht zu spät.

11,9 Prozent bei der Wahl 2009 war ein sattes Ergebnis. Wie viel Protest und wie viel Robin Hood verträgt die Republik?
Gysi: Ja, das Land braucht schon Protest und Widerstand. Die Bürgerinnen und Bürger müssen wissen, dass ohne uns ein wirklicher demokratischer Verlust einträte. Es gäbe keinen Widerspruch gegen Bundeswehreinsätze oder Rentenkürzungen. Das wäre eine Verarmung der Demokratie. Ein bisschen Rebellentum muss schon sein. Ich bin jetzt 65, da legt sich das ja, aber bei jüngeren Leuten, also bitte?! Union, SPD und Grüne ändern ihre Politik, wenn wir zulegen, leider auch, wenn wir verlieren. Sie reagieren nicht aufeinander, nur auf uns. Schon deshalb braucht es eine starke Linke.

Solidarität ist in der Linken kein Fremdwort. Wie steht es um die Bündnissolidarität innerhalb der NATO, wenn Sie fordern, die deutschen Raketenabwehrstellungen an der türkisch-syrischen Grenze abzuziehen?
Gysi: Ich hoffe jetzt wieder auf eine politische Lösung, aber Deutschland darf auf gar keinen Fall Kriegspartei im Nahen Osten werden. Wenn die USA doch noch einen Militärschlag führen und die Türkei sich daran beteiligt, wird die syrische Armee darauf antworten. Genau dann werden deutsche Soldaten an der türkisch-syrischen Grenze "Patriots" abschießen, um syrische Raketen abzuwehren, die wiederum auf den Angriff der NATO-Partner USA und Türkei reagieren. Dann wären wir Kriegspartei im Nahen Osten. Das ist das Letzte, was wir uns politisch, moralisch und vor allem historisch leisten können. Wir müssen dort Vermittler sein, nicht Kriegspartei.

Ein Fall für den Bundestag?
Gysi: Wenn der US-Kongress mit Mehrheit für einen Militärschlag gegen Syrien stimmte, müsste unbedingt eine Sondersitzung des Bundestages einberufen werden.

Auch fünf Tage vor der Wahl?
Gysi: Auch dann.

CSU-Urgestein Michael Glos, der aus dem Bundestag ausscheidet, hat gesagt: Für Trinker gibt es eine Trinker-Heilanstalt. Für Politiker gebe es nichts Entsprechendes, sonst würde er sich dort anmelden. Brauchen Sie auch Betreuung, wenn Sie aufhören?
Gysi: Ich kämpfe gerade um zehn Prozent, da denke ich doch nicht übers Aufhören nach. Vor 2005 war ich drei Jahre nicht im Bundestag und brauchte keine Betreuung. Allerdings habe ich festgestellt, ich bin auch nicht zufriedenzustellen. Als ich im Bundestag war, fehlte mir, dass ich nicht mehr Frau A oder B als Anwalt helfen konnte. Und als ich wieder Anwalt war, fehlte mir die Politik. Jetzt habe ich eine ganz gute Mischung: Ich bin zu 90 Prozent Politiker, zu sechs Prozent Anwalt und zu vier Prozent Publizist und Moderator. Wenn ich nur Bundestagsdrucksachen läse, käme der Tag, an dem ich aussähe wie eine. Ich beginne das Alter zu genießen. Ich habe zwar kein richtiges Hobby, aber ich weiß schon, wann es Zeit ist zu gehen. Ich trete jetzt für die nächsten vier Jahre im Bundestag an. Was danach kommt, entscheide ich sehr viel später.

Zur Person

Gregor Gysi zählt zu den wenigen Ostdeutschen, die sowohl vor als auch nach der Wende Teil des etablierten Systems waren. Zu Ost-Zeiten wirkte Gysi als Rechtsanwalt von DDR-Regimekritikern wie Robert Havemann. Gysi wehrt sich seit Anfang der 90er Jahre gegen den Verdacht, Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi gewesen zu sein, und hatte damit in mehreren Gerichtsverfahren Erfolg. Der 65-Jährige prägte den Weg der aus der SED hervorgegangenen PDS zur gesamtdeutschen Linken entscheidend mit - als Chef der PDS-Bundestagsfraktion, deren Vorsitz er 2000 niederlegte und den er 2005 als Co-Vorsitzender der vereinigten Fraktion von Linkspartei/WASG wieder übernahm.

Linke-Spitzenkandidaten

Fraktionschef Gregor Gysi ist einer von gleich acht Spitzenkandidaten der Linken. Dem Team gehören daneben an: die stellvertretenden Fraktionschefs Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch, der frühere Parteivorsitzende Klaus Ernst, die stellvertretenden Parteichefs Caren Lay und Jan van Aken sowie die Bundestagsabgeordneten Diana Golze und Nicole Gohlke.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Noch nicht aufgewacht
Kommentar zum Treffen zwischen Scholz und Sunak Noch nicht aufgewacht
Zum Thema
Aus dem Ressort