Flüchtlinge und Integration in NRW Fremde neue Heimat

Köln · Nordrhein-Westfalen ist Deutschlands größtes Einwanderungsland und hat 2015 Hunderttausende Flüchtlinge aufgenommen. Das weckt Ängste und bringt Schwierigkeiten mit sich. Es gibt aber auch viele Menschen, die sich für ein friedliches Zusammenleben einsetzen

 Flüchtlinge werden in der zentralen Registrierstelle des Landes in Herford erfasst.

Flüchtlinge werden in der zentralen Registrierstelle des Landes in Herford erfasst.

Foto: picture alliance / dpa

Bahnhöfe sind ein Symbol dafür, wie Deutschland zu einem Einwanderungsland wurde. Überfüllte Züge mit türkischen Gastarbeitern prägten Anfang der Sechziger Jahre das Bild der großen Zuwanderung, die Deutschland für Jahrzehnte prägen sollte. Als im Herbst 2015 Hunderttausende geflüchtete Menschen nach Deutschland strömten, standen die Bahnhöfe deutscher Großstädte wie München, Hamburg, Berlin und Dortmund erneut im Fokus medialer Aufmerksamkeit. Silvester 2015 wurde der Kölner Hauptbahnhof zum Schauplatz der Flüchtlingskrise, als es zu massenhaften sexuellen Übergriffen auf Frauen kam. Die Debatte um Zuwanderung nahm eine neue Wendung.

Rund 200 000 Flüchtlinge haben in NRW vorerst eine Bleibe gefunden. Ihre Ankunft hat viel Hilfsbereitschaft aber auch große Ängste geweckt – vor Überfremdung, Kriminalität, besonders aber vor islamistischem Terrorismus. Seit dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt gibt es eine neue Sicherheitsdebatte. Die Emotionen in sozialen Medien wie Facebook kochen hoch.

Mimoun Berrissoun kennt diese Ängste sehr genau. Der 30-jährige Sozialwissenschaftler wuchs als Kind marokkanischer Eltern in Köln auf und hat in seiner Heimatstadt die Initiative „180-Grad-Wende“ ins Leben gerufen. Damit wollen Berrissoun und seine Mitstreiter sich gegen Radikalisierung und für Integration von Jugendlichen einsetzen. Wir brauchen eine Gegenbotschaft und wir müssen laut, sichtbar und furchtlos sein“, sagt Berrissoun, der für sein Engagement bereits von Islamisten angefeindet wurde.

Die Gegenbotschaft der 2012 gestarteten Initiative, die vom Bundesfamilienministerium mit 120.000 Euro im Jahr gefördert wird, setzt an der Wurzel an und setzt zunächst auf die Mittel klassischer Sozialarbeit: Hilfsangebote für Schulabbrecher bei der Suche nach Job und Ausbildung, Deeskalationstraining, Drogenprävention und Deutschkurse. Das Rezept ist einfach: Wer eine Perspektive im Leben hat, ist weniger anfällig für die Botschaften der Radikalen. Allerdings wird diese Arbeit vorwiegend nicht von Sozialarbeitern gemacht, sondern von Jugendlichen vor Ort, die eine Ausbildung als Coach oder Multiplikator durchlaufen haben. Jugendliche mit Migrationshintergrund nehmen die Integration damit selbst in die Hand und werden für andere zu Vorbildern. Mehr als 200 Jugendliche hat die Initiative inzwischen als solche Vorbilder ausgebildet und Hunderte Jugendliche betreut. „Wir haben gemerkt, dass die bisherigen Hilfsangebote viele junge Leute nicht erreichen“, sagt Berrissoun. Die 180-Grad-Wende baut Brücken zu Angeboten von Stadt, Land und Polizei. Es soll ein Netz entstehen, das Jugendliche vor dem Fall in Radikalisierung und Kriminalität abfängt.

Kein anderes Bundesland ist durch Zuwanderung so stark geprägt worden wie Nordrhein-Westfalen. Das Land hat eine lange Tradition der Einwanderung kultureller Vielfalt. Mehr als vier Millionen Menschen in NRW haben eigene oder familiäre Wurzeln im Ausland, das ist rund ein Viertel der Menschen, die in dem Bundesland leben. Bereits zu Beginn seiner 70-jährigen Geschichte prägten Zuwanderer das Land. Hunderttausende Heimatvertriebene fanden eine neue Heimat in Ruhrgebiet, Rheinland und Westfalen – darunter viele arbeitsfähige junge Männer. Später prägten Gastarbeiter aus der Türkei und Spätaussiedler aus der Sowjetunion das Gesicht der Zuwanderung, heute sind es vor allem Flüchtlinge aus Syrien, Irak, Afghanistan und Nordafrika.

NRW hat sich der Integration der Neuankömmlinge verschrieben. Das Land investiert in 5700 zusätzliche Lehrerstellen und kommunale Integrationszentren und hat ein Wohnbauförderprogramm aufgelegt. Städte wie Altena haben die Flüchtlingskrise als Chance gegen das Schrumpfen der eigenen Bevölkerung wahrgenommen und freiwillig zusätzliche Flüchtlinge aufgenommen. In Essen engagieren sich im Rahmen der Initiative „Wir zusammen“ mehr als hundert Unternehmen für die Eingliederung von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt.

Doch auch die Schwierigkeiten werden sichtbar, die Zuwanderung mit sich bringt. So streitet der Landtag etwa um „No-Go-Areas“ in Duisburg-Marxloh, in denen libanesische Familienclans den Ton angeben, und rechtsfreie Räume in der Dortmunder Nordstadt und Essen-Altenessen.

Berrissoun verfolgt diese Debatten sehr genau. Seine Initiative will sich gegen die Bildung von Parallelgesellschaften in ganz NRW stellen und baut dafür allmählich Zweigstellen in Bonn, Bergisch Gladbach und Leverkusen auf. „Wir wollen hier bei uns keine französischen Verhältnisse“, sagt der 30-Jährige. Dafür müsse sich das Land stärker anstrengen, die Ausbildung von Imamen in Deutschland und den Islamunterricht an Schulen schneller ausbauen. „Integration ist ein langsamer Prozess“, sagt Berrissoun. „Aber es geht voran.“

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