Interview mit Detlef Scheele Chef der Bundesagentur für Arbeit zieht Bilanz und blickt auf 2020

Berlin · Der Chef der Bundesagentur für Arbeit zieht Bilanz zur Grundsicherung, äußert sich zum Mindestlohn und blickt auf das Jahr 2020.

 Seit 2015 im Vorstand der Bundesagentur für Arbeit: Detlef Scheele.

Seit 2015 im Vorstand der Bundesagentur für Arbeit: Detlef Scheele.

Foto: dpa/Daniel Karmann

Der Chef der Bundesagentur für Arbeit sagt eine stagnierende Arbeitslosenzahl voraus, rechnet aber mit mehr sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen. Mit Detlef Scheele sprach Birgit Marschall.

Sollen für Jugendliche nach dem jüngsten Verfassungsgerichtsurteil die Hartz-IV-Sanktionen genauso wegfallen wie für Erwachsene? Wäre das nicht kontraproduktiv für deren Eingliederung in den Arbeitsmarkt?

Detlef Scheele: Nein. Ich sage schon lange, dass man Jugendliche nicht anders behandeln soll als Erwachsene. Es nützt nichts, jungen Menschen mehr als 30 Prozent des Existenzminimums zu kürzen, denn das birgt die Gefahr, dass sie sich gänzlich verweigern. Vor allem macht es keinen Sinn, die Miete zu kürzen. Drohende Obdachlosigkeit hilft niemandem.

Ließe es sich nicht gut leben, wenn man 70 Prozent Hartz IV bekommt und schwarz dazu verdient?

Scheele: Ja, es könnte in Einzelfällen passieren. Das ist eine mögliche „Nebenwirkung“ des Verfassungsgerichtsurteils. Aber es werden nur drei Prozent der Hartz-IV-Bezieher pro Monat sanktioniert, und von denen wiederum 70 Prozent nur wegen eines Meldeversäumnisses. Die Gruppe, die Sie meinen, ist also sehr klein.

Die SPD hat auf ihrem jüngsten Parteitag erneut gesagt, sie wolle Hartz IV überwinden. Sind Sie auch dafür?

Scheele: Die Grundsicherung hat sich in den letzten 15 Jahren bewährt: Wir haben historische Niedrigstände bei den Empfängerzahlen und der Langzeitarbeitslosigkeit. Die Zahl der Grundsicherungsempfänger ist seit der Einführung 2005 von 7,2 Millionen auf heute 5,5 Millionen gesunken. Besonders deutlich ging die Zahl der Menschen zurück, die länger als ein Jahr arbeitslos sind. Sie nahm vom Höchststand von knapp 1,7 Millionen im Jahr 2006 auf heute nur noch 698 000 ab. Gerade in den letzten drei, vier Jahren hat sich der Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit nochmals beschleunigt – und das trotz der Zuwanderung von über einer Million Flüchtlingen. Das ist auch ein Erfolg der Agenda-Reform von Gerhard Schröder.

Was war der Reform geschuldet und was dem mehr als zehnjährigen Aufschwung?

Scheele: Der Aufschwung hat natürlich beim Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit geholfen. Aber die größte Leistung der Reform war, dass etwa eine Million arbeitsloser Sozialhilfeempfänger erstmals in die Arbeitsförderung eingegliedert wurden. Sie waren vorher von Fördermaßnahmen völlig abgekoppelt. Natürlich ist nicht alles Gold, was glänzt. Ich wehre mich aber gegen die Schwarz-Weiß-Malerei. Die Wirklichkeit ist differenzierter: Es hat bis heute viele Verbesserungen gegeben, aber auch für einige mehr Härten.

Die Sozialdemokraten müssten also endlich anerkennen, dass ihnen mit Hartz IV eine große Reform gelungen war?

Scheele: Die SPD sollte mal stolz auf das sein, was sie geschafft hat. Dann würde es ihr vermutlich auch besser gehen. Ohne die Grundsicherung und die Verlagerung der Kosten der Sozialhilfe auf den Bund wären viele Kommunen in finanzielle Schieflagen geraten. Seit einem Jahr haben wir mit dem Teilhabechancengesetz die Möglichkeit, geförderte Beschäftigung bis zu fünf Jahre lang zu finanzieren – für Personen, die sechs Jahre und länger arbeitslos sind. Was will man mehr? Wenn die SPD die Grundsicherung hinter sich lassen will, muss sie die Frage beantworten, was sie denn an die Stelle setzen will. Sie wird auch sagen müssen, wie sie zum Beispiel das Problem des Lohnabstandes lösen will. Denn auch die alleinerziehende Kassiererin im Supermarkt muss von 1400 Euro netto leben und finanziert über ihre Steuern die Grundsicherung mit, während ein Leistungsbezieher mit allen Mehrbedarfen und Vergünstigungen möglicherweise unterm Strich dasselbe bekommt.

Wie stehen Sie zu dem Vorschlag, die Bezugszeit des regulären Arbeitslosengeldes nochmals zu verlängern, um die Lebensleistung von Arbeitnehmern besser anzuerkennen?

Scheele: Aus meiner Sicht ist ein Konstruktionsfehler der Grundsicherung, dass Menschen, die 30 Jahre gearbeitet haben, genauso behandelt werden wie Menschen, die gar nicht gearbeitet haben. Unsere Forscher sagen uns aber, dass eine längere Arbeitslosigkeit für sich schon ein Benachteiligungsmerkmal ist. Je länger man arbeitslos ist, desto schwerer findet man wieder Arbeit. Deshalb wollen wir lieber eine zweite Stufe in der Grundsicherung für langjährig Versicherte einführen statt die Bezugszeit des regulären Arbeitslosengeldes zu verlängern: Um die Lebensleistung von Arbeitnehmern besser zu berücksichtigen, plädieren wir für einen höheren Regelsatz in den ersten zwei Jahren in der Grundsicherung.

Wie würde sich ein stärkerer Anstieg des Mindestlohns auf die Arbeitslosigkeit auswirken?

Scheele: Es wäre gut, wenn der Mindestlohn stiege, auch perspektivisch auf zwölf Euro. Wenn man es aber sehr schnell machte, könnte es Probleme geben. Besonders bei Geringqualifizierten könnte es zu Arbeitsplatzverlusten führen.

Braucht die Mindestlohnkommission für den Mindestlohn andere Kriterien als die Entwicklung der Tariflöhne?

Scheele: Für 2020 ist ja eine Evaluation des Mindestlohngesetzes vorgesehen. Dann muss man schauen, ob die Kriterien ausreichend und vernünftig sind. Wichtig ist, dass man den Mindestlohn in den Händen der Tarifpartner lässt. Und dass die Tarifgebundenheit der Unternehmen gestärkt wird. Es darf nicht die Politik darüber entscheiden, wie hoch der Mindestlohn sein soll.

Wie sieht Ihr Ausblick auf 2020 aus?

Scheele: Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung wird laut unseren Forschern weiter um 250 000 recht deutlich wachsen. Die Zahl der Arbeitslosen wird auf niedrigem Niveau stagnieren. Das größte Problem des vor uns liegenden Jahres ist: Unser Erwerbspersonenpotenzial steigt fast nicht mehr. Im Jahr 2019 ist es noch um 220 000 Personen gestiegen, 2020 erwarten wir nur noch ein Plus von 40 000. Der Fachkräftemangel ist mittelfristig die eigentliche Wachstumsbremse.

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