Interview "Der christliche Glaube hat eine politische Dimension"

Wolfgang Thierse nimmt heute in der "Kreuzung St. Helena zum Thema "Mut zum Christsein" Stellung. Mit dem Bundestagspräsidenten a. D. sprach Ebba Hagenberg-Miliu.

 "Den Ausdruck Wende mag ich nicht", sagt der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse.

"Den Ausdruck Wende mag ich nicht", sagt der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse.

Foto: dpa

Das Bonner "Novemberfestival" steht unter dem Motto "ÜberMut". Sind Sie ein mutiger Politiker?

Wolfgang Thierse: Ich komme mir nicht besonders mutig vor, wenn ich meine Überzeugungen ausspreche, meine Vorschläge und meine Kritik zu Politik oder sonstigen Fragen formuliere. Das hat nichts mit Mut zu tun.

Kommen wir zur DDR-Bürgerrechtsbewegung: Es hat aber schon Mut gebraucht, 1989 auf die Straße zu gehen?

Thierse: Ja, das gehört zu den guten und fröhlichen Erinnerungen an den Herbst 1989, die wir immer festhalten sollten: Wir DDR-Bürger, die wir von uns dachten, dass wir klein, grau und hässlich waren, entdeckten plötzlich, dass wir Mut, Sprache, Phantasie und Witz hatten. Das sollte für immer unser Selbstbewusstsein stärken.

Die Bürger haben also eine unblutige Revolution auf die Beine gestellt...

Thierse: Jawohl, eine friedliche Revolution, die auch noch erfolgreich war, und in der Freiheit und Einheit nicht getrennt waren, sondern zusammen verwirklicht wurden. Das hat es in der deutschen Geschichte noch nie gegeben. Deswegen können die Ostdeutschen darauf stolz sein und sollten sich diesen Grund für ihr Selbstbewusstsein nicht wegnehmen lassen, von wem auch immer.

Die Wende wurde also auf der Straße entschieden?

Thierse: Den Ausdruck Wende mag ich nicht. Er stammt von Egon Krenz und ist deshalb für mich verdorben. Wende wird dem welthistorischen Charakter und der Bedeutung der Revolution nicht gerecht. Die Reihenfolge war: erst die Demonstrationen, erst der Kampf um die Freiheit und danach die Ermöglichung der Einheit. Erst ging es um die Grundrechte, um die Grundfreiheiten und die Demokratie. Und dann war durch den überraschenden Durchbruch durch die Mauer immer mehr die Einheit Deutschlands das Thema. Die Reihenfolge ist wichtig.

Dabei waren die Kirchen sehr aktiv?

Thierse: Ja, innerhalb dieser friedlichen Revolution haben die Kirchen, die Christen eine wichtige Rolle gespielt. Das muss man sich immer wieder in Erinnerung rufen, weil die Zeithistoriker diesen Aspekt geradezu systematisch und absichtsvoll vernachlässigen. Unter dem Dach der Kirchen haben sich die Oppositionsgruppen gebildet, versammelt und haben miteinander diskutiert. In den Gruppen waren besonders viele Christen aktiv. Das macht die Sache nicht zu einer christlichen oder protestantischen Revolution. Aber die Christen und die Kirchen haben eine herausragende Rolle in diesem Befreiungsprozess gespielt.

Schien die Katholische Kirche dabei nicht etwas gehemmt?

Thierse: Ja, aber die war ja auch die viel Kleinere, das darf man nicht vergessen. Nur fünf Prozent der DDR-Bürger rechneten sich zum Schluss zu ihr. Da kann man nicht so viele Gewichte heben. Außerdem hat die Katholische Kirche eine andere Strategie verfolgt: Sie hat versucht zu überwintern, zu überstehen, sich auf keinen Fall auf dieses Regime einzulassen. Das war bei der Evangelischen Kirche anders und durchaus widersprüchlicher. Aber dadurch war die Evangelische Kirche in einem vernünftigen Sinne politischer.

Sie sagen, christlicher Glaube kann keine Privatsache bleiben...

Thierse: ... er kann nicht für sich bleiben. Er verlangt immer auch tätiges Zeugnis und damit Einsatz für die Gemeinschaft. Damit hat der christliche Glaube automatisch im weiten Sinne des Wortes eine politische Dimension. Er ist eine Sache der freien individuellen Entscheidung, aber zugleich nicht nur das Für-wahr-Halten von ein paar Sätzen, sondern Einweisung in Lebenspraxis.

Altbundeskanzler Helmut Kohl nannte Sie deshalb den "Politiker mit der Kerze"...

Thierse: Ach, der hat mich ja auch Volkshochschulhirn genannt. Und nur Thierses Hirn sei entsprungen, dass die Demonstranten von Leipzig und anderswo etwas mit der Vereinigung zu tun gehabt hätten. Darauf sage ich: Wer den Ostdeutschen ihre friedliche Revolution nimmt, den Akt der Selbstbefreiung und den Beitrag zur Überwindung des Kommunismus und der Einheit Deutschlands, der nimmt ihnen die wichtigste, ja im Grunde die einzige politische Quelle ihres Selbstbewusstseins. Dagegen wehre ich mich genauso wie sehr viele Ostdeutsche.

Zur Person

Wolfgang Thierse, 71, geboren in Breslau, aufgewachsen in Thüringen, seit 1964 in Berlin, Sozialdemokrat, von 1998 bis 2005 Bundestagspräsident, dann bis 2013 Bundestagsvizepräsident, ist stolz darauf, der erste Ostdeutsche in einem Verfassungsamt gewesen zu sein. "Die zweite war Merkel, der dritte war Gauck."

Thierse in Bonn

Wolfgang Thierse spricht im Rahmen des Novemberfestivals "ÜberMut" des Katholischen Bildungswerks, des Evangelischen Forums und der Theatergemeinde Bonn am Freitag, 14. November, 17 Uhr, im Dialograum "Kreuzung St. Helena", Bornheimer Straße 130. Karten unter Telefon 0228 429790 oder Email info@bildungswerk-bonn.de.

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