Joachim Gauck wird 75 Der charmante Unbequeme

BERLIN · Staatsoberhaupt sein und sich doch freuen können wie ein kleiner Junge - geht das? Joachim Gauck ist am 10. November vergangenen Jahres noch 76 Tage entfernt von seinem 75. Geburtstag.

 Auf verschlungenen Pfaden ins Präsidentenamt: Bundespräsident Joachim Gauck bei einem Empfang im Schloss Bellevue in Berlin.

Auf verschlungenen Pfaden ins Präsidentenamt: Bundespräsident Joachim Gauck bei einem Empfang im Schloss Bellevue in Berlin.

Foto: dpa

Aber doch sind diese rund 90 Minuten in Schloss Bellevue ganz besondere für den Bundespräsidenten. Drei Monate vorher, im Stadion Maracana von Rio de Janeiro weiß Gauck nach 90 Minuten noch nicht, ob er, der Gesamtdeutsche aus der früheren DDR, sich wieder so würde freuen können wie 1954 beim Wunder von Bern.

Damals war Gauck, in Rostock geborener Sohn eines Kapitäns, 14 Jahre alt, als das kriegsversehrte und mit Kriegsschuld belastete Deutschland mit einem WM-Titel ins internationale Rampenlicht zurückkehrte.

Mit 14 hat man noch Träume. 60 Jahre später, im Alter von 74 Jahren und auf erstaunlichen Lebenspfaden ins höchste Staatsamt gekommen, nicht weniger. Gauck ist selig an jenem 13. Juli 2014, Tausende Kilometer von Berlin entfernt. Deutschland wird zum vierten Mal Fußballweltmeister.

Drei Monate später verleiht er den Spielern das Silberne Lorbeerblatt, die höchste Ehrung für Sportler in Deutschland. Er sagt: "Die ganze Wahrheit ist doch, dass wir alle Weltmeister geworden sind, dass wir uns jedenfalls so fühlen." Er betont, dass auch ein Land Weltmeister geworden sei, "das schon seit einiger Zeit zu entspanntem, zu einem aufgeklärten Patriotismus gefunden hat".

Es folgt noch einen Satz über eine veränderte Wirklichkeit: "Was die Mannschaft nun auch schon eine ganze Weile ausmacht, das ist die ganz selbstverständliche Spiegelung der Einwanderungsgesellschaft, die wir längst geworden sind."

Gauck kann da noch nicht ahnen, dass er Monate später die Vielfalt des Landes als Stärke des vereinten Deutschlands regelrecht beschwören muss. Wenn Gauck heute im ganz privaten Kreis mit Familie und Freunden seinen 75. Geburtstag feiert, kann er als Staatsoberhaupt aller Deutschen anhaltende Demonstrationen gegen eine angebliche Islamisierung des Abendlandes nur bedingt ausblenden.

Noch in der vergangenen Woche stand Gauck bei einer Mahnwache am Brandenburger Tor und schickte nach dem Terroranschlag in Paris die Botschaft ins Land: "Deutschland ist durch Einwanderung vielfältiger geworden - religiös, kulturell und mental."

Gauck ist ein Mahner, ein charmanter Unbequemer, ein Non-Konformist, einer, der die Freiheit von Wort und Meinung besonders schätzt, weil er aus der Unfreiheit des autoritären Regimes der DDR kommt. Wie so oft, redet er auch 2014 beim Staatsbesuch in der Türkei Klartext.

Menschenrechte, Meinungsfreiheit und Unabhängigkeit der Justiz gehörten zu den Grundpfeilern der Demokratie. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan reagiert pikiert und verbittet sich eine Einmischung in innerstaatliche Angelegenheiten. Der Bundespräsident denke wohl, "er sei immer noch Pastor".

Dass Gauck eines Tages an die Spitze von Staat und Gesellschaft eines friedlich vereinten Deutschlands rücken würde, hätte der frühere Pfarrer, einst im Dienst der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche von Mecklenburg, noch nicht einmal in seinen kühnsten stillen Gebeten ausgesprochen.

Der bürgerrechtsbewegte Protestant war eine führende Figur der friedlichen Massenproteste 1989 in Rostock. Von 1991 bis 2000 leitete er die lange nach ihm benannte "Gauck-Behörde" für die Unterlagen der DDR-Staatssicherheit. Obwohl Gauck nach Ende seiner Zeit als Beauftragter für die Stasi-Unterlagen ohne Mühe in die aktive Politik hätte gehen können und Parteien um ihn werben, nimmt er kein politisches Amt an.

1999 lässt er Avancen aus CSU-Kreisen an sich vorbeilaufen, bei der Bundestagswahl Gegenkandidat von Johannes Rau zu werden. Erst 2010 tritt Gauck, nominiert von SPD und Grünen, nach dem Rücktritt von Horst Köhler als Kandidat für das höchste Staatsamt an - und unterliegt Christian Wulff, bis dato niedersächsischer Ministerpräsident.

Doch man sieht sich immer zweimal im Leben. Als Wulff 2012 seinen Rücktritt erklärt, weil er Vorwürfe der Vorteilsnahme aus seiner Zeit als Ministerpräsident zunächst nicht ausräumen kann und schließlich die Staatsanwaltschaft Hannover Wulffs Immunität aufhebt, kommt Gauck erneut fürs höchste Staatsamt ins Gespräch.

Der einstige Volkskammer-Abgeordnete von Bündnis 90 sitzt gerade auf dem Weg vom Flughafen nach Hause im Taxi, als Bundeskanzlerin Angela Merkel auf seinem Mobiltelefon durchklingelt. Danach geht alles sehr schnell. Gauck kandidiert und wird am 18. März 2012 zum Bundespräsident gewählt.

Seither gibt es im Protokoll des Bundespräsidialamtes erstmals eine "Lebensgefährtin". Auch wenn Konservative zunächst murren, bleiben Gauck und die neue "First Lady", die Journalistin Daniela Schadt, unverheiratet. Dass der Staat ins Private reinredet, das hätte ihm, dem Staatsoberhaupt, noch gefehlt.

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