Interview mit Entwicklungsminister Gerd Müller „Das ist Mord“

Entwicklungsminister Gerd Müller ruft zu einer neuen Politik gegenüber Afrika auf. Es sei eine Frage der Gerechtigkeit, andere an unserer Entwicklung, unserem Wohlstand zu beteiligen, sagt der CSU-Politiker im Gespräch mit Lutz Warkalla.

 Information vor Ort: Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) beim Besuch einer Kakao-Plantage in der Elfenbeinküste.

Information vor Ort: Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) beim Besuch einer Kakao-Plantage in der Elfenbeinküste.

Foto: PHOTOTHEK.NET/UTE GRABOWSKYI

Herr Müller, in Ostafrika und im Jemen sind Millionen Menschen vom Hunger bedroht. Was tun?

Gerd Müller: Sofort handeln. Nicht zuschauen, sondern den Hilfsorganisationen und den Vereinten Nationen die benötigten Mittel zur Verfügung stellen. UN-Generalsekretär António Guterres beziffert den Bedarf in diesem Hungergürtel auf vier Milliarden Euro. Damit könnte jedes Kind, jeder Hungernde überleben. Aber verfügbar ist nicht einmal ein Drittel davon. Und deshalb wird täglich gestorben. Das ist Mord. Wir wissen, was passiert, wir müssen reagieren. Für den Normalbürger sind das große Summen. Aber wenn man das ins Verhältnis setzt zu dem, was an anderen Stellen ausgegeben wird – etwa für Bankenrettungen, oder die Erhöhung des US-Militärhaushaltes um 54 Milliarden Dollar im kommenden Jahr – , dann glaube ich: Das muss machbar sein.

Sie haben vor diesem Hintergrund eine Reform des Weltkrisenmanagements gefordert. Was stellen Sie sich da vor?

Müller: Im Augenblick haben wir die beschämende Situation, dass zu Beginn jeden Jahres die Internationalen Organisationen wie Unicef und UNHCR mit dem Klingelbeutel von Nation zu Nation laufen, um das notwendige Geld für Krisenreaktionen zusammenzubekommen. Weltweit werden derzeit für alle Krisen in der Welt – Naturkatastrophen, Hungersnöte – etwa 20 Milliarden Dollar benötigt. Das ist eine große Summe, aber das muss die Weltgemeinschaft leisten können. Deshalb benötigen wir ein neues Weltkrisenreaktionssystem mit einem Krisenfonds der Vereinten Nationen, der mit permanenten Beiträgen von zehn Milliarden Dollar gefüllt ist, damit sofort reagiert werden kann und nicht erst Menschen sterben. Es geht auch um Weltsolidarität: Jeder zahlt ein gemäß seines UN-Schlüssels. Im Augenblick ist es so, dass fünf Geber 90 Prozent aller humanitären Hilfe weltweit leisten. Das kann es nicht sein.

Sie setzen sich für einen Marshall-Plan für Afrika ein. Hilft es, das Füllhorn über den afrikanischen Staaten auszuschütten, solange es dort so viele Verantwortliche gibt, die keine Verantwortung für ihre Länder übernehmen, sondern nur an sich denken?

Müller: Richtig ist doch: In den letzten 30 Jahren gab es große Erfolge. Die Mütter- und Kindersterblichkeit wurde beinahe halbiert. Auch bei Krankheiten wie HIV oder Malaria ist es gelungen, die Zahl der Todesopfer mehr als zu halbieren. Die Kinderlähmung ist praktisch besiegt. Aber wir stehen immer noch vor großen Herausforderungen. In Afrika wird sich die Bevölkerung in den nächsten 30 Jahren verdoppeln. Das hat enorme Folgen für die Sicherstellung der Ernährung, den Klimaschutz und den Arbeitsmarkt. Es müssen Hunderte von Millionen Arbeitsplätze für die junge Generation geschaffen werden. Deshalb habe ich dazu aufgerufen, zusammen mit den Afrikanern einen Marshall-Plan auf den Weg zu bringen. Das kann Deutschland nicht allein, sondern da gehört auch die Europäische Union mit einem neuen Zukunftskonzept für Afrika dazu.

Wer soll das bezahlen?

Müller: Es geht nicht allein um öffentliche Gelder. Natürlich brauchen wir die öffentliche Zusammenarbeit, um Leuchttürme zu setzen, um Staaten zu beraten, um sie beim Aufbau von Verwaltungen zu unterstützen. Der zweite Schwerpunkt muss sein, Privatinvestitionen in Infrastruktur auszulösen: also in den Bereichen Energie, Gesundheitswesen oder Schulwesen in afrikanischen Partnerstaaten. Die entscheidende dritte Säule ist, Handel fair zu gestalten.

Was bedeutet das konkret?

Müller: Über faire Handelsbeziehungen werden die schnellsten und größten Entwicklungsimpule in Afrika ausgelöst. Und da müssen wir ehrlich sein: In den letzten 50 Jahren haben wir den Kolonialismus im Prinzip weitergeführt, indem wir die Ressourcen Afrikas für unseren Wohlstand nutzen, ohne dafür faire Preise zu bezahlen.

Wie kann es gelingen, dass Afrika nicht nur auf die Rolle als Rohstofflieferant beschränkt wird, sondern selbst in die Weiterverarbeitung und Wertschöpfung einsteigt?

Müller: Wir müssen die wirtschaftliche Zusammenarbeit gleichberechtigt gestalten. Wir müssen also den Zugang zum europäischen Markt für afrikanische Staaten öffnen, Zollgrenzen und Quoten abschaffen. Wir müssten zum Beispiel den nordafrikanischen Staaten die Integration in den europäischen Markt ermöglichen. Natürlich ist das eine neue Konkurrenz für europäische Unternehmen. Aber nur so werden wir dort eine Entwicklung auslösen, wie wir sie in den vergangenen 25 Jahren in Osteuropa erlebt haben. Von der Osterweiterung haben ja beide Seiten profitiert. Andererseits muss man afrikanische Staaten auch fordern. Meine Grundsätze sind klar: kein Geld für korrupte Strukturen. Wir fordern Reformen ein und kontrollieren dies. Afrikanische Staaten, die ernst machen mit dem Kampf gegen Korruption, mit Rechtssicherheit und der Achtung der Menschenrechte, können verstärkt auf unsere Zusammenarbeit bauen.

Sie haben kürzlich eine engere Zusammenarbeit mit der Gates-Stiftung vereinbart, der finanzkräftigsten Stiftung der Welt. Birgt das nicht auch Risiken?

Müller: Wir brauchen starke private Partner. Mit unserem Budget können wir die Herausforderungen nicht bewältigen. Mit Organisationen wie der Gates-Stiftung haben wir festumrissene Projektkooperationen vereinbart: zum Beispiel beim Ausbau von Gesundheitsstrukturen, bei der Durchführung von Impfprogrammen, bei der Schaffung von Zugang zu Medikamenten für HIV-Kranke.

Der Stiftung wird ja auch vorgeworfen, sie setze im Bereich der Landwirtschaft nicht auf nachhaltige Methoden, sondern auf schnelle Erfolge durch Gentechnik, Hybrid-Saatgut und ähnliche Methoden.

Müller: Was den Agrarbereich angeht, stehe ich ganz klar für Ernte von unten. Wir müssen für mehr Produktivität bei den Kleinbauern sorgen. Mein Vorbild ist Raiffeisen: Genossenschaften oder Kooperativen bilden, gemeinsam einkaufen, vermarkten, Märkte erschließen.

Gehören Gentechnik und Hybrid-Saatgut für Sie dazu?

Müller: Wir brauchen weder Gentechnik noch Hybrid-Saatgut. Wir setzen in unseren grünen Innovationszentren – zwölf davon gibt es bisher – zum Beispiel im Saatgutbereich auf die vorhandenen Möglichkeiten, und die sind fast unendlich. Ein Beispiel, das mich begeistert hat: In unserem Zentrum in Benin haben wir eine alte Reissorte aus Asien, die den dreifachen Ertrag bringt, getestet. Das Ergebnis: Das funktioniert auch in Afrika, wenn die Sorte zum Boden und zur Niederschlagsmenge passt. Ich habe vor Kurzem mit Baumwollfarmern in Burkina Faso gesprochen, die zurückgehen von der genveränderten Baumwolle zu traditionellen Sorten, weil die Erwartungen nicht eingelöst wurden. Wir setzen ganz bewusst auf vorhandenes, lokales Wissen, Saatgut und Potenzial.

Alle reden derzeit von Entwicklungshilfe als Mittel zur Fluchtursachenbekämpfung. Ist die Entwicklungszusammenarbeit damit nicht überfordert?

Müller: Ich bin da eher zurückhaltend. Es ist natürlich Fakt, dass mit den vielen Migranten, die im vergangenen Jahr auch aus Afrika nach Deutschland kamen, jedem Politiker klar geworden ist: Engagieren wir uns nicht mehr in den Ländern, wo die Menschen sich auf den Weg machen, dann werden nicht 100 000, sondern Millionen kommen. Das passiert ja nicht freiwillig, sondern aus Perspektivlosigkeit, aus Elend und Not, aus Mangel an Arbeitskräften. Wer meint, es reiche, Zäune zu bauen um Europa, der wird sich wundern.

Von welchen Zahlen reden wir denn überhaupt, wenn es um mögliche Migranten geht?

Müller: Das kann Ihnen niemand sagen. Wir wissen aber schon heute, wie groß die Herausforderungen sind. Nigeria wird in den nächsten 20 Jahren mit 450 Millionen Menschen das Land mit der drittstärksten Bevölkerung weltweit sein – nach Indien und China. Allein in Ägypten gibt es schon heute 20 Millionen Jugendliche im Alter zwischen 20 und 25 Jahren, davon sind zwei Drittel ohne Ausbildung und feste Arbeit.

Sie gelten als wackerer Streiter gegen die Idee, Entwicklungszusammenarbeit als Druckmittel in der Flüchtlingskrise einzusetzen …

Müller: Entscheidend ist, die Länder zu stabilisieren und in deren Entwicklung zu investieren. Alles andere wird nicht funktionieren. Eins ist doch klar: Wir lösen die Problematik des afrikanischen Kontinents nicht durch Zuwanderung nach Europa. Wir könnten aus Afrika zwei, drei, fünf Millionen Menschen aufnehmen – was absolut undenkbar ist – und würden damit kein einziges Problem lösen.

Wo liegt denn die Lösung?

Müller: Täglich wächst die Weltbevölkerung um 230 000 Menschen, im Jahr um 80 Millionen. Das zeigt doch: Es hilft nicht, dass wir Menschen hier aufnehmen, sondern wir müssen andere an der Entwicklung, an unserem Wohlstand, teilhaben lassen. Wir müssen Afrika auf Augenhöhe begegnen, und da gibt es großen Handlungsbedarf, eine neue Wirtschafts-, Handels- und Außenpolitik einzuleiten. Es geht auch um Gerechtigkeit: Wenn heute zehn Prozent der Weltbevölkerung 90 Prozent des Vermögens besitzen und 20 Prozent – nämlich wir, die Industriestaaten – 80 Prozent der Ressourcen verbrauchen, dann haben wir ein Verteilungsproblem. Diese Ressourcen stammen ja ganz überwiegend aus Afrika. Ohne Coltan würde kein Handy funktionieren. Unsere ganze Produktion würde stillstehen, hätten wir nicht die Ressourcen aus Afrika. Afrika ist nicht arm, sondern wir haben es arm gemacht, weil wir die Länder nicht partizipieren lassen an unserer Entwicklung.

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