„Ein Land kann sich auch kaputtsparen“ Das GA-Interview mit Martin Schulz

Bonn · SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz spricht über den Standort Bonn, die Zukunft des Dieselmotors, Verwerfungen in der Arbeitswelt durch die Digitalisierung – und er erklärt, warum die Bundestagswahl trotz schlechter Umfragewerte für die SPD noch offen ist.

Die Fragen beantwortet er ruhig und konzentriert, stellenweise kommt seine rheinische Fröhlichkeit zum Vorschein. Genervt wirkt er allerdings, wenn er auf die schlechten Umfragewerte der SPD angesprochen wird. Alles sei noch offen, sagt Schulz im Interview beim General-Anzeiger.

Herr Schulz, Sie sind auf Kurzbesuch in Bonn. Wie würden Sie als Bundeskanzler auf die alte Hauptstadt blicken?

Martin Schulz: Ich stehe zum Bonn-Berlin-Gesetz. Ich habe mich auch gemeinsam mit der Kanzlerin intensiv für Bonn als Standort künftiger EU-Institutionen eingesetzt.

Hat die Stadt realistische Chancen?

Schulz: Die Voraussetzungen sind günstig. Die Infrastruktur ist gut, die Stadt hat auch viel Erfahrung im Management solcher Ansiedlungen. Das spricht für Bonn, aber die Konkurrenz ist hart.

Bremen, Bonn, Trier, alles in 24 Stunden. Sie haben jetzt ihre Wahlkampftour für den Endspurt gestartet. Wie geht es Ihnen?

Schulz: Gut. Sehr gut. Natürlich ist das alles stressig. Aber mir macht Wahlkampf einfach Spaß.

Viele Termine, Reden, viele Papiere – Sie rackern sich ab. Nur in den Umfragen will die SPD einfach nicht zulegen. Finden Sie das ungerecht?

Schulz: Umfragen sind Umfragen. Die Meinungsforscher versehen ihre Umfragen mit dem Hinweis: Das ist eine Momentaufnahme. Die einzige Sonntagsfrage, die mich interessiert, ist die am 24. September, dem Wahltag.

Dennoch scheint der Abstand zu Angela Merkels Union wie festbetoniert. Wie wollen Sie noch Wechselstimmung erzeugen?

Schulz: Schauen Sie, 50 Prozent der Wähler haben sich noch nicht entschieden. Es sind immer noch Millionen Deutsche im Urlaub.

Ihr großes Thema soziale Gerechtigkeit scheint den Wählern nicht so wichtig zu sein, zeigen Umfragen. Haben Sie auf die falsche Botschaft gesetzt?

Schulz: Einspruch! Die Leute wollen eine sichere Rente, ein gerechtes Bildungssystem, Schulen, in die es nicht hineinregnet. Das sind unsere Themen! Das Interessante ist, dass ich in meinem gesamten Wahlkampf den Begriff „Soziale Gerechtigkeit“ nicht zur zentralen Botschaft gemacht habe. Sondern „Gerechtigkeit“.

Helfen Sie uns beim Präzisieren.

Schulz: Gerechtigkeit bedeutet auch Generationen-Gerechtigkeit. Das bewegt die Menschen, denn es geht um die Angst vor Altersarmut. Gerechtigkeit bedeutet auch Bildungs-Gerechtigkeit. Und das steht bei den Leuten in den Umfragen, die Sie zitieren, an erster Stelle. Gerechtigkeit bedeutet auch Steuer-Gerechtigkeit und Lohn-Gerechtigkeit. Wenn zwei Arbeiter nebeneinander am Fließband stehen und der eine Tariflohn bekommt, der andere aber als Leiharbeiter für die gleiche Arbeit weniger, dann empfinden die Leute das als zutiefst ungerecht. Das Gerechtigkeitsthema wird die Wahl entscheiden.

Nun hat die SPD mit Unterbrechung seit 1998 mitregiert. Genug Zeit, um für mehr Gerechtigkeit zu sorgen.

Schulz: Deutschland geht es gut, weil wir über lange Zeit mitregiert haben. Sozialdemokratische Politik hat Deutschland besser gemacht. Aber wir hätten natürlich in den letzten Jahren deutlich mehr durchsetzen können, wenn die CDU, allen voran die Bundeskanzlerin, nicht blockiert hätte.

Zum Beispiel?

Schulz: Zum Beispiel wenn Merkel sagt, wir brauchen bei der Rente nichts zu tun. Das ist falsch. Wenn wir nicht eingreifen, sinkt das Rentenniveau und die Beiträge steigen. Und was bietet die CDU an? Dass wir bis 70 arbeiten. Ich sage: Auf keinen Fall. Das ist mit uns nicht zu machen. Die Rentenpolitik wird eine große Rolle spielen, zudem werden wir die Rückkehr von Teilzeit auf Vollzeit ermöglichen – auch da war in dieser Legislatur Angela Merkel die Blockiererin.

Die Verdienste der SPD in der großen Koalition werden vom Wähler aber offenbar nicht belohnt.

Schulz: Schauen wir mal. Der Wahlkampf beginnt jetzt. Und er wird nicht auf roten Teppichen oder auf G20-Gipfeln entschieden, wo sich die Kanzlerin aufhält. Er wird im Alltag der Menschen entschieden: Wer hat die besseren Konzepte für die Bildung meiner Kinder, meine Sicherheit, meine Altersvorsorge?

Einer Ihrer Vorschläge ist eine Quote für Elektroautos. Warum muss die Politik der Wirtschaft vorgeben, auf welche Technologie sie zu setzen hat?

Schulz: Einer der Punkte meines Fünf-Punkte-Plans ist der Einstieg in die Elektromobilität. Die Dieseltechnik wird es noch eine gewisse Zeit geben, deshalb wird man sie auch optimieren müssen. Aber wenn wir nicht intensiv Forschung und Entwicklung betreiben, und dazu soll die Quote ja als Anreiz dienen, hängen uns die Chinesen und Amerikaner eiskalt ab.

Bonn ist eine Pendlerstadt. Wie sollen die vielen Pendler diesen Weg bewältigen, wenn sie mit dem Elektroauto fahren sollen?

Schulz: Die Pendler wären bei Diesel-Fahrverboten die Gelackmeierten. Wir müssen Fahrverbote vermeiden. Deshalb brauchen wir eine schnelle Umrüstung. Zugleich gilt aber auch, dass Menschen, die in Innenstädten wohnen, ein Anrecht auf saubere Luft haben. Deshalb müssen Schadstoffe reduziert werden. Das kostet Geld, und dieses Geld müssen die Automobilkonzerne aufbringen. Ich sage immer: Mir sind die Golf-Fahrer wichtiger als die Golf-Spieler in den Firmenvorständen.

Vom Wohl und Wehe der Autoindustrie hängen Millionen Menschen ab. Sie machen sich Sorgen, nicht nur wegen der Debatte um den Antrieb, sondern auch wegen der zunehmenden Automatisierung. Was sagen Sie diesen Menschen?

Sie wollen eine staatliche Investitionspflicht. Noch eine Quote.

Schulz: Deutschland kann mehr. Wir haben in Deutschland einen massiven Investitionsstau. Und das liegt nicht, wie Frau Merkel glaubt, an schleppenden Genehmigungsverfahren. Wenn’s in die Schule reinregnet, brauchen sie kein Genehmigungsverfahren, sondern einen Dachdecker! Wir investieren schlicht zu wenig. Wir wollen deshalb eine Investitionsquote. Ein Land kann sich auch kaputtsparen. Wir werden eine Investitionsoffensive starten, für die allein der Bund in der kommenden Wahlperiode rund 30 Milliarden Euro zusätzlich in die Hand nehmen wird.

Wie motivieren Sie die Wirtschaft zu Investitionen?

Schulz: Jeder öffentlich investierte Euro zieht zwei bis drei privat investierte Euro nach sich. Sie müssen ja staatliche Infrastruktur schaffen, von der Bildung bis zum Digitalen, um private Investitionen auszulösen. Welche Standortkriterien sind für Privatinvestoren wichtig? Es sind Schulen, medizinische Versorgung, Kultur- und Freizeitangebote für ihr Personal. Hast du das nicht, bleibst du weg. Aber genau bei diesen weichen Standortbedingungen investiert der Staat nicht!

Was soll der Staat konkret tun?

Schulz: 70 Prozent aller Gewerbegebiete liegen im ländlichen Raum. Ich war selber Bürgermeister einer solchen Stadt. Eine ähnliche Situation wie in Bonn haben wir in Aachen: ein hochattraktiver Standort, aber kein Platz. Warum gehen die Firmen nicht ins Umland? Weil es kein Highspeed-Internet gibt. Also wandern sie über die Grenze nach Holland oder Belgien. Wir sind bei der Digitalisierung in Deutschland nicht einmal mehr Mittelmaß. Es ist empörend, dass es die Bundeskanzlerin nach zwölf Jahren im Amt fertigbringt zu sagen, bei der Digitalisierung müssten wir mehr tun. Ach, nee!

Sie wollen verstärkt im ländlichen Raum investieren?

Schulz: Ja. Und wenn Sie zugleich den öffentlichen Nahverkehr so ausbauen, dass Pendler nicht stundenlang im Stau stehen müssen, sondern mit einer Bahnanbindung schneller in der Stadt sind, dann erreichen Sie zwei Dinge: Sie lassen die ländlichen Räume nicht verkommen, gleichzeitig entlasten sie die urbanen Zentren.

Ein anderes Thema, das die Menschen umtreibt, ist das Gebaren des türkischen Präsidenten Erdogan. Er greift Außenminister Gabriel an, er lässt einen deutschen Schriftsteller in Spanien festnehmen, er mischt sich in die Bundestagswahl ein. Wann ist das Maß voll?

Schulz: Es ist bereits voll. Aber Herr Erdogan reizt es immer noch weiter aus. Sie müssen sich das mal vorstellen: Das Staatsoberhaupt eines befreundeten Landes attackiert den höchsten diplomatischen Repräsentanten eines anderen Landes! Es ärgert mich auch besonders, wenn Erdogan dazu aufruft, die SPD nicht zu wählen. Ich muss mir doch von einem Herrn Erdogan nicht sagen lassen, wir seien Feinde der Türkei. Es ist jetzt der letzte Punkt einer langen Kette erreicht.

Was sind die Konsequenzen? Ende der Beitrittsverhandlungen?

Schulz: Jetzt geht es erst mal um die Erweiterung der Zollunion, von der die Türkei wirtschaftlich abhängt. Also: Lassen wir Erdogans jüngste Provokationen als eine Entgleisung durchgehen und ziehen nicht die Konsequenz Zollunion, was ein ganzes Volk bestrafen würde? Oder sind wir irgendwann gezwungen, genau das zu tun?

Haben Deutschland und die EU auch Fehler gemacht im Umgang mit der Türkei?

Schulz: Ja. Ich halte es für einen schweren Fehler, dass man die Türkei damals zurückgewiesen hat. Ankara war der EU-Beitritt versprochen worden. Doch als die Beitrittsverhandlungen begannen, sagte Angela Merkel plötzlich, sie würden mit offenem Ausgang geführt. Und die Österreicher sagten: Beitritt? Niemals. Diese Doppelbödigkeit Europas hat mit dazu beigetragen, dass sich die Türkei von Europa abgewendet hat.

Ein anderer Präsident, der Sorgen macht, ist Donald Trump. Die USA wollen nun in Afghanistan nicht mehr einen Staat aufbauen, sondern Dschihadisten bekämpfen. Was heißt das für Deutschland, für die Bundeswehrsoldaten?

Schulz: Zu sagen, wir jagen Terroristen, aber wir helfen nicht beim Aufbau eines funktionierenden Staates, ist typisch Trump. Das kann sich die Bundesrepublik nicht zu eigen machen. Das Mandat, innerhalb dessen wir Soldaten da hingeschickt haben, ist klar: Wir wirken am Aufbau und Wiederaufbau eines afghanischen Staates und einer nationalen Identität mit. So schwierig es ist, das ist der Auftrag. Deshalb rate ich dazu, bei der Legitimationsbasis des jetzigen Einsatzes zu bleiben.

Wenn Sie Kanzler werden wollen, brauchen Sie Koalitionspartner. Wen schließen Sie aus?

Schulz: Die Parteien, die mit uns koalieren wollen, sind herzlich eingeladen, unser Programm zu lesen und sich dann zu entscheiden, ob sie mit uns koalieren wollen oder nicht.

Wäre Rot-Rot-Grün möglich, würden Sie ja sagen?

Schulz: Wenn jemandem unser Programm passt, kann er gerne mit uns reden. Darin stehen Dinge wie ein Ja zum Euro, ein Ja zu den multilateralen Verpflichtungen der Bundesrepublik, das muss man schon unterschreiben wollen. Jede Partei muss überlegen, ob sie das kann.

Sie meinen die Linke, die Sie zum Regieren bräuchten.

Schulz: Vielleicht gibt es auch eine große Koalition unter meiner Führung. Da kann Frau Merkel gerne als Vizekanzlerin eintreten, kein Problem.

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